Die Zwangsvollstreckung führt zu einem Eingriff des staatlichen Vollstreckungsorgans in die Sphäre des Schuldners; wie für jeden staatlichen Eingriff in „Freiheit und Eigentum“ gilt auch für jenen der Grundsatz strengster Gesetzmäßigkeit: er darf nur unter den im Gesetz genannten Voraussetzungen und nur in den gesetzlich zugelassenen Formen erfolgen. Verstöße gegen diesen Grundsatz wendet der Schuldner mit den Rechtsbehelfen der Erinnerung (§ 766) und sofortigen Beschwerde (§ 793), u.U. auch der Rechtsbeschwerde (§ 574) ab; einen durch schuldhafte Amtspflichtverletzung eines Vollstreckungsorgans entstandenen Schaden hat der Staat dem Schuldner zu ersetzen (§ 839 BGB, Art. 34 GG). Ein Entschädigungsanspruch wegen enteignungsgleichen Eingriffs kommt dagegen nicht in Betracht[12].
2. Gesetzmäßigkeit und materielle Prüfung
5.13
Freilich ist es nicht Aufgabe des Vollstreckungsorgans zu prüfen, ob der im Vollstreckungstitel für vollstreckungsfähig erklärte prozessuale Anspruch mit den ihm zu Grunde liegenden materiellrechtlichen Ansprüchen in Wahrheit je bestanden hat oder noch besteht; für die Vollstreckung ist der „Titel“ maßgebend. Liegt er vor, so hat der Gläubiger ein Recht auf Durchführung der Zwangsvollstreckung (oben III.), der Schuldner muss den Vollstreckungseingriff in seine Rechtssphäre dulden. Das Vollstreckungsorgan handelt rechtmäßig, auch wenn der im Titel „verbriefte“ Anspruch nicht gegeben ist. Der Schuldner muss daher Einwendungen, die sich gegen den vollstreckbaren Anspruch richten (z.B. er habe die Schuld längst bezahlt oder gegen die Forderung des Gläubigers wirksam aufgerechnet), im Wege der sog. Vollstreckungsgegenklage (§§ 767, 796 Abs. 2, 797 Abs. 4) geltend machen mit dem Ziel, durch rechtsgestaltendes Urteil dem Titel die Vollstreckungsfähigkeit zu nehmen[13].
5.14
Schon hier wird deutlich, dass das Vollstreckungsverfahren weithin formalisiert ist und formalisiert sein muss. Liegen die allgemeinen Voraussetzungen der Zwangsvollstreckung, die man gemeinhin mit „Titel, Klausel, Zustellung“ umschreibt, und die besonderen Voraussetzungen der jeweiligen Vollstreckungsart vor, so muss und darf das Vollstreckungsorgan den Zwangsvollstreckungsakt vornehmen. Dies ist auch gerechtfertigt; denn der Schuldner hatte im Erkenntnisverfahren die Möglichkeit einer rechtsstaatlich geordneten Verteidigung; dem Gläubiger ist es nicht zuzumuten, sich im Vollstreckungsverfahren erneut mit den materiellrechtlichen Einwendungen des Schuldners herumzuschlagen; das Vollstreckungsorgan ist schließlich gar nicht in der Lage, sich mit derartigen Einwendungen zu befassen[14].
3. Staatlicher Eingriff, Gemeinwohl und Schuldnerschutz
5.15
Die Zwangsvollstreckung ist sonach Ausübung staatlichen Hoheitsrechts; „sie gehört daher in allen ihren Teilen ausschließlich dem öffentlichen Recht an“[15]. Da der Staat seine Vollstreckungsgewalt nicht aus der privatrechtlichen Rechtsstellung des Gläubigers ableitet, dient er bei der Durchführung der Zwangsvollstreckung nicht allein den Interessen des Gläubigers; er hat auch die wohlverstandenen Belange des Schuldners zu wahren und soziale oder gesamtwirtschaftliche Auswirkungen der Zwangsvollstreckung im Rahmen des Gesetzes zu berücksichtigen[16].
5.16
Daraus ergibt sich, dass die Zwangsvollstreckung dem Schuldner die für seine Existenz und sein wirtschaftliches Fortkommen notwendigen Vermögensgegenstände belassen muss (z.B. §§ 811, 850–850i, 851a und 851d), vor allem aber, dass dem Vollstreckungsrichter die Aufgabe zufällt, unnötige Härten abzuwenden und auf einen Ausgleich zwischen den Interessen des Gläubigers und denen des Schuldners bedacht zu sein (z.B. § 765a; §§ 30a, 85a ZVG). Nach der neueren sozialstaatlichen Auffassung über die Stellung des Staates in der Zwangsvollstreckung – die zuerst in der österreichischen Exekutionsordnung von 1896 Ausdruck gefunden hat[17] – muss der Staat durch seine Vollstreckungsorgane auch die Gesamtinteressen berücksichtigen. Wie die Zwangsvollstreckung eine wesentliche Voraussetzung für das „Funktionieren“ der Wirtschaftsordnung ist, so liegt es andererseits nicht im Interesse der Gesamtheit, leistungswillige Schuldner durch eine reibungslose Vollstreckung zu vernichten. Diese Erwägungen haben in der neueren Gesetzgebung nicht nur zu einem – allerdings gelegentlich übersteigerten – Schuldnerschutz geführt, sondern vor allem die Stellung des Richters in der Zwangsvollstreckung gestärkt; er ist – wie dies auch auf anderen Gebieten zu beobachten ist – zum Mittler eines sozialen Ausgleichs geworden (Rn. 3.23 ff.). Der Schuldnerschutz beruht vielfach auf sozialstaatlich verstandenen Grundrechten und ist daher in seinen Grundzügen verfassungsfest[18].
1. Begriff
5.17
Es entspricht der Regel, dass Schuldner ihre Verbindlichkeit freiwillig erfüllen, dies vor allem dann, wenn ihre Leistungspflicht in einem gerichtlichen Urteil ausgesprochen worden ist. Wo diese Erwartung trügt, greift auf Antrag des Gläubigers die Vollstreckungsgewalt des Staates ein. Aus dem bisher „zweiseitigen“ Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner wird in der Vollstreckung ein „dreiseitiges“, wobei jetzt das „Schwergewicht“ offensichtlich auf dem Verhältnis Gläubiger – Staat und Staat – Schuldner liegt. Aber auch zwischen Gläubiger und Schuldner bestehen vollstreckungsrechtliche Beziehungen – vielfach mit dem Ausdruck „Vollstreckungsverhältnis“ bezeichnet.
Der BGH spricht von einer „gesetzlichen Sonderbeziehung privatrechtlicher Art“, die Grundlage materiellrechtlicher Pflichten und Schadensersatzansprüche aus § 280 BGB sein können soll[19], und einem „gesetzlichen Schuldverhältnis“, das naturaliter vollstreckbare Mitwirkungspflichten des Schuldners begründen könne[20]. Die Lehre qualifiziert das Vollstreckungsverhältnis dagegen wie das Prozessrechtsverhältnis überwiegend prozessual und lehnt die systemwidrige Verquickung von materiellem und Prozessrecht zu Recht ab[21].
2. Vollstreckungsgegenstand
5.18
Vollstreckt wird der prozessuale Anspruch des Gläubigers gegen den Schuldner, der nunmehr im Titel formalisiert ist und dem i.d.R. einer oder mehrere konkurrierende materiellrechtliche Ansprüche zu Grunde liegen (vollstreckbarer Anspruch, Rn. 5.11). Hat aber der Schuldner den Gläubiger – gegen Quittung – befriedigt, also den Anspruch erfüllt oder der Gläubiger Stundung bewilligt, so ist die Zwangsvollstreckung einzustellen (§ 775 Nr. 4 und 5).
a) Rechtskraft und Präklusion
5.19
Der Schuldner kann Einwendungen gegen den Anspruch selbst nur mit der Vollstreckungsgegenklage (§ 767) geltend machen; diese kann nur auf solche Gründe gestützt werden, die sich erst nach der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Prozessgericht ergeben haben. Im Übrigen ist dem Schuldner die Behauptung verwehrt, der Gläubiger habe gar keinen materiell-rechtlichen Anspruch und die von ihm betriebene Zwangsvollstreckung sei deswegen unrechtmäßig (ne-bis-in-idem-Wirkung der materiellen Rechtskraft).
b) Rechtskräftiges Urteil und ungerechtfertigte Vollstreckung
5.20
Auch zivilrechtliche Schadensersatz- oder Bereicherungsansprüche des Schuldners nach Abschluss einer „in Wahrheit“ ungerechtfertigten Zwangsvollstreckung aus rechtskräftigen Urteilen kommen grundsätzlich nicht in Betracht; denn auch ein Schadensersatz- oder bereicherungsrechtlicher Zahlungsprozess würde den Rechtsstreit neu aufrollen und damit die materielle Rechtskraft durchbrechen.
Ausnahmsweise