2. Würdigung
4.39
Vieles, was im Rahmen einer Grundsatzreform des Vollstreckungsrechts der Bundesrepublik vorgeschlagen worden ist, war in der DDR verwirklicht. Eine Adhäsion des amtswegigen Vollstreckungssystems mit seiner totalen Ingriffnahme der schuldnerischen Sphäre zum Totalitarismus des gesamtstaatlichen Systems wird man schwer übersehen können. Damit ist nun sicher nicht gesagt, dass jedes Einzelelement dieses Systems als Ausformung totalitären Denkens sofort aus einer Reformdiskussion unter liberalen verfassungsstaatlichen Vorzeichen ausgeklammert bleiben müsste. Nur sollte man bei Reformvorstellungen, die ein geballtes Arsenal amtswegiger Ermittlung präsentieren, vorsichtig die Grenzen immer im Auge behalten, die der Grundrechtskatalog auch für den Schuldner wünschenswert erscheinen lässt. Wer die Überwachung will, muss eben die Insolvenz beantragen, die den Schuldner nach einer Periode der Überwachung und Reglementierung wieder frei sein lässt[31].
a) Grundsatz
4.40
Mit dem 3.10.1990 ist in den neuen Bundesländern das Vollstreckungsrecht der ZPO in Kraft getreten (Art. 8 Einigungsvertrag) einschließlich des ZVG. Das noch im Juni 1990 angepasste und reformierte Vollstreckungsrecht der DDR[32] hat so kaum Bedeutung erlangt. Nachdem es Rechtspfleger und Gerichtsvollzieher in der DDR nicht gegeben hat, mussten nunmehr aus der Anzahl der ca. 900 früheren Gerichtssekretäre und aus Neubewerbern geeignete Persönlichkeiten gewonnen werden; der Einigungsvertrag erleichtert den Übergang durch Ausnahmeregelungen, welche die neuen Bundesländer legislatorisch ausfüllen müssen[33]. Die Gerichtsvollzieherordnung (GVO) und die Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (GVGA) sind von den neuen Ländern übernommen, teilweise mit geringfügigen Modifikationen. Jedoch litt die Vollstreckung in den neuen Ländern vor allem in der Anfangsphase unter großem Mangel an Gerichtsvollziehern.
b) Schwebende Vollstreckungsverfahren
4.41
Schwebende Verfahren waren nach altem Recht fortzuführen[34], wobei allerdings die Rechtsänderung kurz vor dem Beitritt (Rn. 4.40) zu beachten war. Bleibende Bedeutung hat diese Regelung nur bei Vorratspfändungen (§ 96 Abs. 3 ZPO-DDR) behalten, die aber nunmehr bei fortwirkendem Pfändungsbeschluss nach dem Recht der ZPO abzuwickeln sind[35].
c) Frühere DDR-Titel
4.42
Die Behandlung früherer DDR-Titel durch Art. 18 Abs. 1 Einigungsvertrag ist nur vor dem Hintergrund des früheren interlokalen Anerkennungs- und Vollstreckungsrechts verständlich. Es ging von dem Grundsatz aus, dass die DDR nicht Ausland im Sinne der §§ 722, 723 war[36] und deshalb eine Vollstreckungsklage wie bei ausländischen Urteilen ausschied[37]. DDR-Titel waren also zunächst ohne besonderes Verfahren wie gewöhnliche Inlandstitel zu vollstrecken. Der Schuldner konnte aber die modifiziert geltenden Anerkennungsversagungsgründe[38] des § 328 Abs. 1 im Wege der Erinnerung geltend machen (§ 766) und Einwendungen nach Titelentstehung im Wege der Vollstreckungsgegenklage (§ 767) vor dem analog § 722 Abs. 2 zuständigen Gericht vorbringen[39]. Denkbar war vor Vollstreckungsbeginn auch eine Feststellungsklage zur Klärung der Vollstreckbarkeit und ihrer Modalitäten[40]. Eine jüngere Ansicht, welche die Eigenstaatlichkeit der DDR stärker betonte und §§ 722, 723 analog anwenden wollte[41], konnte sich praktisch nicht durchsetzen.
4.43
An diese Rechtslage knüpft Art. 18 Abs. 1 Einigungsvertrag an. Er bestätigt die grundsätzliche Vollstreckbarkeit der DDR-Titel nach den Regeln der ZPO[42]. Verstöße gegen die Rechtsstaatlichkeit sind wie seither der ordre public-Verstoß im Rahmen des § 766 geltend zu machen, und zwar auch gegen Vollstreckungen in den neuen Bundesländern. Außerhalb der Vollstreckung sind entsprechende Feststellungsklagen möglich[43]. Im Übrigen sind alle Rechtsbehelfe zulässig, welche die ZPO auch gegen rechtskräftige Titel kennt: §§ 323, 579 ff., 767[44].
4.44
Nicht vollstreckbar sind die Entscheidungen der „gesellschaftlichen Gerichte“ der früheren DDR[45]. Hingegen können Vergleiche vor den gemeindlichen Schiedsstellen der neuen Länder vollstreckt werden[46]. Bei Beschlüssen nach § 794 Abs. 1 Nr. 2a a.F. als Vollstreckungstitel ist die landesrechtliche Implementation durch Verordnungen zu beachten (Art. 234 §§ 8, 9 EGBGB).
d) Ehegattenvollstreckung
4.45
Soweit für die Ehegatten das eheliche Güterrecht des BGB gilt (Art. 234 § 4 Abs. 1 EGBGB), ergeben sich für die Vollstreckung keine Besonderheiten. Falls sie aber den alten gesetzlichen Güterstand des FGB-DDR gewählt haben (Art. 234 § 4 Abs. 2 S. 1 EGBGB), besteht für Neuerwerb gemeinsames Eigentum (§ 13 Abs. 1 FGB-DDR), dessen Behandlung § 744a durch den Verweis auf das Recht der Gütergemeinschaft lösen will: §§ 740–744, 774, 860. Man wird anzunehmen haben, dass angesichts gemeinsamer Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis (§ 15 Abs. 1 FGB-DDR) stets § 740 Abs. 2 greift und aus § 16 Abs. 1 FGB-DDR die Möglichkeit folgt, gegen den anderen Ehegatten einen Duldungstitel zu erstreiten[47]. Eine Vollstreckungsbegrenzung (§ 16 Abs. 2 FGB-DDR) wird der andere Ehegatte nicht erstreiten können, er kann sich nur durch Auflösung der Gemeinschaft schützen[48].
§ 5 Die Vollstreckungsbeteiligten und ihre Rechtsbeziehungen
Schrifttum:
Blomeyer § 20; Gerhardt, Vollstreckungsrecht, § 2; Gaul/Schilken/Becker-Eberhard § 8; Gaul, „Prozessuale Betrachtungsweise“ und Prozesshandlungen in der Zwangsvollstreckung, Gedächtnisschrift für Arens, 1993, S. 83; ders., Vollstreckbarer Anspruch und vollstreckbare Urkunde, FS Lüke, 1997, S. 81; ders., Rechtsverwirklichung durch Zwangsvollstreckung aus rechtsgrundsätzlicher und rechtsdogmatischer Sicht, ZZP 112 (1999), 135.
S. Übersicht 3 Rn. 5.1
5.1
Übersicht 3: Die an der Zwangsvollstreckung Beteiligten
I. Die Beteiligten
5.2
Das Zwangsvollstreckungsverfahren kennt drei Beteiligte: denjenigen, der die Zwangsvollstreckung beantragt, „betreibt“ (das Gesetz nennt ihn Gläubiger), den, gegen den sich die Zwangsvollstreckung richtet (Schuldner), und das staatliche Organ, das die Zwangsvollstreckung durchführt (das Vollstreckungsorgan).
1. Gläubiger und Schuldner
5.3
„Gläubiger“ und „Schuldner“ sind technische Bezeichnungen des Zwangsvollstreckungsrechts, die mit den gleichen Bezeichnungen des Schuldrechts (vgl. § 241 BGB) nur insofern etwas zu tun haben, als der Gläubiger der Zwangsvollstreckung