bb) Vor- und Nachteile des Prioritätsprinzips
6.42
Das Prioritätsprinzip privilegiert den aufmerksamen Gläubiger, der den Kredit sorgsam überwacht und rechtzeitig beitreibt, es begünstigt damit gesunde Kreditverhältnisse. Es ist praktikabler als das Gleichrangprinzip, das fortlaufende Nachpfändungen weiterer Gegenstände verlangt, wenn weitere Gläubiger mitvollstrecken und der ursprüngliche Pfandgegenstand nicht mehr ausreicht. Die Unsicherheit des Gläubigers, der sich auf die ihm zugutekommende Wertrealisierung des Pfandobjekts nicht verlassen kann, führt zu Überpfändungen und übereilten Insolvenzanträgen. Das Prioritätsprinzip fördert also bei Geldschulden den rechtzeitigen maßvollen Vollstreckungseingriff[62]. In Fällen der Naturalvollstreckung ist es das einzige logisch denkbare Regelungsmodell.
Der Nachteil des Prioritätsprinzips liegt darin, dass der Gläubiger den Zeitpunkt des Vollstreckungsaktes oft nicht in der Hand hat, weil Titelerwerb und Mobilisation der Vollstreckungsorgane nicht seiner Organisationsgewalt unterliegen. So regiert nicht selten der Zufall. Schließlich ist die Geduld mit dem Schuldner nicht immer eine Untugend. Die Grenzen des Prioritätsgrundsatzes zeigen sich bei arrestmäßiger Sicherungsvollstreckung besonders deutlich[63].
cc) Bewertung
6.43
Das Prioritätsprinzip der Einzelvollstreckung ist mit Art. 3 GG vereinbar[64], wenn gleichzeitig das Insolvenzverfahren mit seinem Gleichrangprinzip eine reale Alternative darstellt, falls das Schuldnervermögen nicht ausreicht. Reformvorhaben sollten deshalb nicht am Prioritätsprinzip der Einzelvollstreckung rütteln (Rn. 4.8, 4.10, 4.27), sondern – wie bereits geschehen – im Insolvenzrecht die Vorschriften für Kleininsolvenzen neu gestalten und das Anfechtungsrecht verschärfen (Bd. II Rn. 4.45, 4.53; 19.47 ff.).
a) Begriffe
6.44
Das Vollstreckungsverfahren kann sich vor allem an den Bedürfnissen einer Geldliquidation orientieren. Dies setzt voraus, dass das gesamte Rechtssystem, also materielles Recht und Verfahrensrecht, die geldwerte Entschädigung als hauptsächliche Sanktion der Pflichtverletzung begreift (Grundsatz der Geldliquidation) und den Schuldner nicht zu rechtstreuem Verhalten unmittelbar zwingt. Das Vollstreckungsrecht kann aber auch dem Gläubiger die Wahl lassen zwischen unmittelbarer Durchsetzung von Handlungs- und Unterlassungspflichten (Naturalvollstreckung) und Geldliquidation.
b) Freie Wahl zwischen Naturalvollstreckung und Geldliquidation
6.45
Das deutsche Vollstreckungsrecht verwirklicht die freie Wahl des Gläubigers zwischen Naturalvollstreckung und Geldvollstreckung. Wer einen Titel über Ansprüche auf Herausgabe, Handlung, Unterlassung bzw. Duldung oder Abgabe einer Willenserklärung erstritten hat, kann die Pflichtigkeit in Natur erzwingen (§§ 883 ff., 887, 888, 890, 894). Er kann aber auch Schadensersatzklage erheben (§§ 893 ZPO, 280, 281/283 BGB) und dann nach den Vorschriften über die Geldvollstreckung (§§ 803 ff.) vorgehen.
6.46
Es ist bereits dargelegt, dass die Möglichkeit der Naturalvollstreckung das Ergebnis einer langen und schwankenden historischen Entwicklung ist (Rn. 3.2 ff.). Sie hat sich nicht in allen Rechtsordnungen gleich rasch und gleich intensiv vollzogen (Rn. 3.20, 3.21, 3.29; 59.24, 59.51, 59.66, 59.82, 59.84). Es gibt noch heute Rechtsordnungen, bei denen die unmittelbare Durchsetzbarkeit von Pflichten nicht immer selbstverständlich ist. Im deutschen Recht liegt die Weichenstellung auf materiellrechtlichem Gebiet: sofern man den mit einer Pflicht korrespondierenden Anspruch bejaht[65], kann der Gläubiger auf Leistung in Natur klagen und ein Leistungsurteil erwirken, für das im Vollstreckungsrecht das Instrumentarium der Naturalvollstreckung zur Verfügung steht. Anders als im Einzelvollstreckungsrecht ist im Insolvenzrecht die Geldliquidation die Regel und die Naturalvollstreckung ist die seltenere Ausnahme (Bd. II Rn. 5.44); denn nur die Geldliquidation kann den Gleichrang (par conditio creditorum) verwirklichen (Rn. 6.38; Bd. II Rn. 5.43).
a) Begriffe und Zusammenhänge
6.47
Im Grundsatz der Zentralisierung oder Dezentralisierung begegnen sich alle Vollstreckungsprinzipien, die für die Vollstreckungsorganisation bedeutsam sind. Dabei gibt es zwei klassische Grundmodelle: die dezentralisierte Organisation mit weitgehender Parteidisposition und Beibringungsmaxime und die zentralisierte Organisation mit Offizialprinzip und Inquisition. Diese Zuordnung ist nicht zwingend, aber typisch. Eine elastische und nicht schematisierte Reihenfolge der Vollstreckungsarten verlangt insoweit Offizialprinzip und Inquisition; nur wo ein einfacher gradus executionis ohne Beurteilungsspielraum praktiziert wird – z.B. Mobiliar- vor Immobiliarvollstreckung – bleiben Dezentralisierung, Parteidisposition und Beibringung denkbar.
b) Die dezentrale Organisation des geltenden Rechts
6.48
Das deutsche Recht verwirklicht die dezentralisierte Verfahrensorganisation. Der Gerichtsvollzieher pfändet bewegliche Sachen, vollstreckt Herausgabeansprüche (§§ 753 Abs. 1, 803 ff.) und nimmt die Vermögensauskunft ab (§§ 802c ff.); das Amtsgericht als – u.U. örtlich wechselndes (Rn. 8.35) – Vollstreckungsgericht pfändet Forderungen und Rechte (§§ 764, 828 ff.), betreibt Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung von Immobilien (§ 1 ZVG) und ist für besondere Vollstreckungsmaßnahmen (z.B. §§ 811a, 825 etc.) zuständig; das Prozessgericht betreibt die Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung (§§ 887 ff.) und das Grundbuchamt die Eintragung einer Sicherungshypothek (§ 867) und ähnliche Maßnahmen grundbuchmäßigen Bezugs (§§ 830, 857). Es gibt keine einheitliche Vollstreckungsleitung durch ein allzuständiges Leitungsorgan.
6.49
Ehe man dieses dezentralisierte System kritisiert, sollte man versuchen, es aus sich heraus zu verstehen und seine Vorteile zu begreifen. Der Gesetzgeber der ZPO hatte in vielen deutschen Rechtsgebieten die zentrale Vollstreckungsleitung – meist durch das Prozessgericht – angetroffen und die zentrale Vollstreckungsleitung als kompliziert erachtet: „Die bisherige gerichtliche Anordnung, Ernennung und Leitung der Exekution vom Prozeßgerichte aus, welches als Mittelpunkt des Verfahrens unter Umständen erst schriftlich und zwar bei jedem Vollstreckungsakte,