I. Die verfassungsrechtliche Rechtsschutzgewährleistung zu Gunsten des Gläubigers
7.1
Die verfassungsmäßige Garantie verfahrensförmigen Rechtsschutzes, wie sie das BVerfG dem materiell betroffenen Grundrecht (z.B. Art. 2 Abs. 1, Art. 14 GG) in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Selbsthilfeverbot, staatliches Gewaltmonopol) entnimmt[1], umfasst die Rechtsverwirklichung durch Vollstreckung[2], weil andernfalls das rechtsstaatliche effektive Verfahren auf halbem Wege stehen bliebe. Die Verfassung des Rechtsstaates garantiert sowohl die grundrechtliche Gewährleistung für den Gläubiger als auch die Zwangsvollstreckung als Rechtsinstitut des Zivilverfahrensrechts und des Verfahrensrechts überhaupt. Diese Feststellung verdient an den Anfang jeder Überlegung zum Thema Vollstreckung und Verfassung gestellt zu werden, weil sie wichtiger gedanklicher Ausgangspunkt ist und alle anderen verfassungsrechtlichen Fragen vor diesem Ausgangspunkt zu erörtern sind[3]. Die grundrechtliche Gewährleistung, die dem Gläubiger zwangsweise Befriedigung gestattet, kann im Falle der Insolvenz zu Gunsten anderer, konkurrierender Gläubiger Beschränkungen erleiden, die allen Gläubigern zugutekommen und Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip entfließen. Das Insolvenzverfahren mit seiner „kollektiven“ Rechtsdurchsetzung ist wie die Einzelvollstreckung ein verfassungsrechtlich garantiertes Institut[4].
1. Eingriffe in das Eigentum
7.2
Die grundrechtliche Gewährleistung rechtsstaatlichen Rechtsschutzes rechtfertigt grundsätzlich den hoheitlichen Eingriff in das Eigentum des Schuldners[5], wie ihn die Vollstreckung häufig mit sich bringt. Bei der Abwägung steht der Schutz des Eigentums des Gläubigers gegen den Schutz des Eigentums des Schuldners, wobei die gerichtlich angeordnete Vermögensverschiebung zu Gunsten des Gläubigers den Ausschlag gibt. Der Eingriff in das Eigentum des Schuldners muss allerdings die Regeln beachten, die für rechtsstaatliches Handeln allgemein gelten: strenge Gesetzmäßigkeit, Erforderlichkeit und Geeignetheit, Verhältnismäßigkeit. Es wäre aber fehlsam, an jeden Einzelakt diese verfassungsrechtlichen Maßstäbe rechtsschöpferisch direkt anzulegen. Vielmehr gewährleistet im Regelfalle das System des Einzelvollstreckungsrechts mit seinen einfachrechtlich ausgestalteten Grundsätzen die Beachtung rechtsstaatlicher Regeln: die Gesetzmäßigkeit in Gestalt des numerus clausus der Vollstreckungsarten, Erforderlichkeit und Geeignetheit bzw. Verhältnismäßigkeit in Gestalt des beschränkten Vollstreckungszugriffs und des Grundsatzes effektiver Verwertung. Die Handhabung rechtsstaatlicher Regeln muss auch stets beachten, dass nicht nur ein hoheitlicher Eingriff im öffentlichen Interesse zur Beurteilung ansteht, sondern dass es um die Verwirklichung einer grundrechtlichen Gewährleistung des Gläubigers geht.
2. Eingriffe in Gesundheit
7.3
Vollstreckungseingriffe können gesundheitsbeeinträchtigende Auswirkungen haben und damit Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG berühren. Die gewöhnlichen psychischen Belastungen des Vollstreckungszugriffs wird jeder Schuldner um der Gläubigerrechte willen zu ertragen haben. Schwerere Erkrankungen können aber eine Handhabung der Verfahrensnormen erzwingen (insbesondere § 765a), welche die Vollstreckung vorübergehend aussetzt[6], in Räumungsfällen bei alten Menschen u.U. sogar endgültig („Philemon und Baucis-Fälle“)[7].
Auch schuldnerische Auskunft kann durch Haft bei Gesundheitsgefährdung nicht erzwungen werden (§ 802h Abs. 2).
3. Eingriffe in die persönliche Freiheit
7.4
Der Vollstreckungszugriff kann in die persönliche Freiheit des Schuldners in mehrfacher Weise eingreifen: einmal können dem Schuldner Auskunfts- und Mitwirkungspflichten auferlegt werden (Art. 2 Abs. 1 GG), zum anderen kann die Vollstreckung zur Willensbeugung führen (Art. 2 Abs. 1 GG), im Extremfall bis zum Freiheitsverlust (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG).
a) Auskunfts- und Mitwirkungspflicht
7.5
Die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Schuldners in Gestalt der Vermögensauskunft sowie der eidesstattlichen Versicherung (§§ 802c, 807, 836 Abs. 3 S. 2, 883 Abs. 2) statuiert eine Zeugnispflicht, mit der sich der Schuldner selbst wirksamer Vollstreckung ausliefert. Eine wirksame Vollstreckung ist ohne Pflicht indessen nicht denkbar, die Belastung des Schuldners trotz ihres selbstausliefernden Charakters hinzunehmen[8]. Ob die Pflicht von Verfassungs wegen entfällt, falls die Leistungsunfähigkeit des Schuldners schon feststeht, ist eine mehr theoretische Frage, weil die Versicherung in aller Regel erst letzte Sicherheit schaffen wird[9]. Bei Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung („nemo tenetur se accusare“; Art. 1, 2 GG) wird der Vollstreckungsschuldner – ähnlich wie der Schuldner im Insolvenzverfahren[10] – seiner Mitwirkungspflicht zwar nicht ledig werden, aber ein strafprozessuales Verwertungsverbot beanspruchen können.
7.6
Im deutschen Vollstreckungsrecht war die Mitwirkungspflicht des Schuldners bis vor einiger Zeit subsidiäres Aufklärungsmittel. Auch die mit der Reform der Sachaufklärung in der Zwangsvollstreckung eingeführte primäre Aufklärungspflicht am Verfahrensanfang (§§ 802c ff.) dürfte verfassungskonform sein, zumal andere Rechtsstaaten dieses Modell durchaus verwirklichen[11]. Ganz über jeden Zweifel erhaben ist dies indessen durchaus nicht.[12]
b) Vollstreckung durch Willensbeugung
7.7
In die persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 S. 2 GG) wird eingegriffen, wenn der Wille des Schuldners bei der Personalexekution durch Zwangsgeld oder Zwangshaft gebeugt werden soll (§§ 888, 890). Das deutsche Vollstreckungsrecht geht dabei wegen der gesteigerten Eingriffsintensität der Personalexekution vom Vorrang der Realexekution aus und betrachtet willensbeugende Personalexekution als ultima ratio, die nur greift, falls andere Vollstreckungsmöglichkeiten sinnvoll nicht denkbar sind.
7.8
Bei der Abgrenzung von vertretbarer und nichtvertretbarer Handlung folgt hieraus die Vermutung zu Gunsten vertretbarer Handlung[13]; damit wird der Vorrang der Realexekution als des verfassungsrechtlich milderen Eingriffs gewahrt. Rechtsgeschichtlich ist die Verdrängung der Personalexekution durch die Realexekution ein Fortschritt[14]. Dass dieser Prozess noch nicht in allen Staaten der EU abgeschlossen und dort ein nicht immer geordnetes Nebeneinander von Real- und Personalexekution zu beobachten ist, sollte nicht zu bedenklichen Reformvorschlägen in Deutschland