6.27
Während das zivilprozessuale Erkenntnisverfahren ein zweiseitiges, kontradiktorisches Verfahren ist, für das der Grundsatz des Gehörs Verfassungsrang hat (Art. 103 Abs. 1 GG), ist das Vollstreckungsverfahren zunächst einmal ein einseitiges Verfahren, das dem Schuldner in aller Regel nur nachträgliches Gehör gewährt[42]. Die Grundvorstellung des Gesetzgebers geht davon aus, dass das Vollstreckungsverfahren nur die Ergebnisse des Erkenntnisverfahrens zügig verwirklicht, das den Streit unter beidseitigem Gehör beendet hat. Bloß bei atypischem Ablauf der Vollstreckung oder besonders gewichtigen Eingriffen ist das vorausgehende Gehör des Schuldners erforderlich; stets ist die Möglichkeit nachträglichen Gehörs auf schuldnerischen Rechtsbehelf gegeben[43].
b) Verwirklichung im einfachen Recht
6.28
Der Einseitigkeitsgrundsatz ist für die Forderungspfändung ausdrücklich positiviert (§ 834), er gilt aber auch[44] bei der Pfändung beweglicher Sachen und der Beschlagnahme von Immobilien (§§ 15 ff. ZVG) ebenso wie bei der Herausgabevollstreckung, wo das Gesetz das vorherige Schuldnergehör nirgends erwähnt. Wenn hingegen der Vollstreckungsakt nicht standardisiert ablaufen kann, sondern besondere Entscheidungen voraussetzt, entspricht das vorherige Gehör ausdrücklicher Regelung oder es folgt aus verfassungsrechtlichen Erwägungen.
Ausdrückliche Regelungen finden sich z.B. in §§ 730, 733, 850b Abs. 3, 891 S. 2. Bei der Überweisung einer Forderung an Zahlungs statt (§ 835 Abs. 2) folgert die h.M. aus der Endgültigkeit des Aktes die Notwendigkeit vorherigen Gehörs (Rn. 30.36). Im Verfahren der Zwangsversteigerung sind §§ 30b Abs. 2, 63 Abs. 4, 66 Abs. 1, 74, 113 ZVG zu beachten[45].
6.29
Falls der Schuldner die Fehlerhaftigkeit eines Vollstreckungsaktes durch Rechtsbehelf geltend machen will, gelten im Rechtsbehelfsverfahren die allgemeinen Regeln des Erkenntnisverfahrens und damit auch der Grundsatz des beidseitigen Gehörs[46]. Wichtig ist weiter, dass sich beide Teile – Schuldner und Gläubiger – über laufende Vollstreckungsmaßnahmen unterrichten können müssen, um gegebenenfalls Rechtsbehelfe zu ergreifen.
Der Gerichtsvollzieher muss ein Protokoll führen (§§ 762, 763) und u.U. zustellen, die Beteiligten haben Akteneinsicht (§ 760). Für die Akten des Vollstreckungsgerichts wird man die entsprechende Anwendung des § 299 zu vertreten haben, für Akten des Grundbuchamtes als Vollstreckungsorgan die Anwendung des § 12 GBO.
c) Würdigung
6.30
Insgesamt darf die Regelung des deutschen Vollstreckungsverfahrensrechts als ausgewogen bezeichnet werden. Anders als im Insolvenzrecht hat das Einzelvollstreckungsverfahren nur sehr selten Erkenntnischarakter.
a) Verfahrenseinleitung
6.31
Die Verfahrensbeteiligten haben regelmäßig die Wahl, ob sie ihre Verfahrenshandlungen gegenüber dem Gerichtsvollzieher oder Vollstreckungsgericht schriftlich oder mündlich vornehmen wollen.
Dies gilt jedoch infolge des Formularzwangs für Anträge an den Gerichtsvollzieher (§ 753 Abs. 3) sowie für Anträge auf Forderungspfändung (§ 829 Abs. 4) nur noch eingeschränkt, beispielsweise für Anträge auf Zwangsversteigerung[47], wobei die entsprechende Anwendung des § 496 nahe liegt. Bei anderen Vollstreckungsorganen gelten die verfahrensspezifischen Regeln, also für Handlungs- und Unterlassungsvollstreckung (§§ 887 ff.) beim Prozessgericht die Regeln über Schriftlichkeit (§§ 129 f.) und Anwaltszwang[48], für Anträge beim Grundbuchamt (§ 867 Abs. 1) der Schriftlichkeitsgrundsatz (arg. § 13 Abs.1 S. 2 GBO[49]).
b) Mündliche Verhandlungen und Erörterungen
6.32
Die Vollstreckungsorgane können vor Entscheidungen im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens mündlich verhandeln, es gibt aber vielfach keine notwendige mündliche Verhandlung (§§ 764 Abs. 3, 891 S.1, 128 Abs. 4). Hiervon macht das Gesetz jedoch Ausnahmen, wenn die Praktikabilität den mündlichen Termin verlangt (z.B. §§ 875, 876: Verteilungstermin; §§ 66, 74, 105 ff. ZVG etc.). Soweit über Rechtsbehelfe nicht das Vollstreckungsgericht entscheidet (§§ 767 Abs. 1, 771 Abs. 1), gelten die Regeln des Erkenntnisverfahrens für die Mündlichkeit (§ 128)[50]. Insgesamt also ein eher pragmatisches Mosaik aus Schriftlichkeit und Mündlichkeit, das aber weit mehr schriftliche Elemente enthält als das Erkenntnisverfahren.
a) Öffentlichkeit als Ausnahme
6.33
Das Verfahren der Zwangsvollstreckung ist grundsätzlich nichtöffentlich. Der Eingriff in die Schuldnersphäre, wie ihn der Vollstreckungsakt häufig darstellen wird, verbietet die Öffentlichkeit meist von selbst (s. Rn. 7.32). Auch die Akteneinsicht ist nur Verfahrensbeteiligten gestattet (§§ 760, 299). Ausnahmen macht das Gesetz vor allem dort, wo die sachgerechte Verwertung Öffentlichkeit verlangt, also bei der öffentlichen Versteigerung (§§ 814 ff.; 39, 42, 66 ff. ZVG), und wo das Informationsinteresse der Öffentlichkeit das Anonymitätsinteresse des Schuldners überwiegt, wie etwa beim Schuldnerverzeichnis (§§ 882b ff.; Rn. 7.14). Die beschränkte Öffentlichkeit bei gewaltsamer Vollstreckung (§§ 759, 892) in Gestalt zugezogener Zeugen hat Kontroll- und Beweisfunktion.
Der Öffentlichkeitsgrundsatz soll nicht für mündliche Verhandlungen des Vollstreckungsgerichts zur Vorbereitung oder Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen gelten (z.B. Termine in Verteilungsverfahren etc.); anders bei „Erkenntnisverfahren aus Anlass der Vollstreckung“ (§§ 767, 771)[51]. Die Abgrenzung dürfte im Einzelfall schwierig sein. Bei mündlicher Verhandlung im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens sollte man den Begriff des „erkennenden Gerichts“ (§ 169 S. 1 GVG) großzügig auslegen und dem Öffentlichkeitsgrundsatz[52] im Zweifel Geltung verschaffen, so etwa wenn das erkennende Gericht Vollstreckungsorgan ist (§§ 887 ff., 891).
b) Parteiöffentlichkeit
6.34
Ein Sonderproblem ist die Parteiöffentlichkeit des Vollstreckungsverfahrens. Natürlich können die Parteien bei Verhandlungen des Gerichts zugegen sein, soweit die Gewährleistung rechtlichen Gehörs reicht (Rn. 6.28, 7.31), und Akteneinsicht beanspruchen (§§ 760, 299). Ob und inwieweit der Gläubiger bei Vollstreckungsakten gegen den Schuldner anwesend sein darf, ist außerordentlich umstritten.
Soweit die Anwesenheit des Gläubigers Freiheitsrechte des Schuldners zusätzlich beeinträchtigt (Art. 2, 13, 14 GG) und der Gläubiger am Eingriff in die Persönlichkeitssphäre des Schuldners, sein Eigentum (Betretungsrechte) oder seine Wohnung teilhat, fehlt es bei entgegenstehendem Schuldnerwillen an einer Eingriffsnorm, man könnte allenfalls §§ 759, 892 bemühen, die aber insoweit nicht passen, weil der interessierte Gläubiger nicht der klassische Zeuge ist. Ein Gerichtsbeschluss kann die fehlende gesetzliche Ermächtigung nicht ersetzen[53]. Im Übrigen wird man vom Anwesenheitsrecht des Gläubigers auszugehen haben (siehe auch § 138 Abs. 1 GVGA; § 802f Abs. 4 S. 2).
a)