Das geltende Recht verbietet nutzlose Vollstreckungseingriffe (§§ 803 Abs. 2 ZPO; 77 ZVG), deren Erfolglosigkeit von vornherein feststeht[100]. Das Vollstreckungsinteresse, eine Sonderform des Rechtsschutzinteresses, dürfte allerdings nur selten ausnahmsweise fehlen. Man wird nach dem Grundsatz „in dubio pro creditore“ zu entscheiden haben, will man das Vollstreckungsverfahren nicht durch eine vorweggenommene Würdigung der Vollstreckungsaussichten blockieren.
Die Problematik fehlenden Vollstreckungsinteresses und rechtsmissbräuchlicher Vollstreckung (Rn. 6.57) ist teilweise identisch: in beiden Fällen geht es um die Schranken der Ausnutzung einer vorgegebenen Rechtsposition. Beide Möglichkeiten einer Vollstreckungsbeschränkung sollten zurückhaltend beurteilt werden, wobei die verfassungsrechtliche Betrachtung ein gegenteiliges Ergebnis nicht zu stützen vermag (Rn. 7.21). Besonders problematisch ist ein strenger Maßstab bei zwangsweiser Durchsetzung der vollstreckungsrechtlichen Aufklärungsmittel (§§ 802g, 807): hier droht allzuleicht die Gefahr vorweggenommener Würdigung des Aufklärungsergebnisses, wie sie im Erkenntnisverfahren regelmäßig als unzulässig betrachtet wird[101].
6.69
Das positive Recht verbietet die „Kahlpfändung“ (§§ 811 ff., 850 ff.) und gewährt schuldnerschonende Moratorien (§§ 721, 802b, 765a ZPO; 30a ff. ZVG). Es begrenzt durch Höchstsätze die Möglichkeit schuldnerischer Willensbeugung (§§ 802j, 888 Abs. 1 S. 2 und 3, 890). Dem Gesetz liegt der Gedanke zu Grunde, dass auch die Rechtsverwirklichung den unbegrenzten Eingriff in die Freiheits- und Vermögenssphäre des Schuldners nicht erlaubt, anders als in älteren Rechtsordnungen[102].
Der Grundsatz des beschränkten Vollstreckungszugriffs ist insoweit in seinem Kernbestand verfassungsfest (Rn. 7.15). Er verdankt einerseits dem Gedanken der Beschränkung staatlichen Eingriffs in bürgerliche Freiheitsrechte seine Existenz[103], andererseits ist er durch die Abwägung zwischen Gläubiger- und Schuldnerrechten determiniert; hinzu kommt das öffentliche Interesse am Schutz vor Sozialhilfefälligkeit einzelner Bürger[104].
c) Würdigung
6.70
Der Grundsatz des beschränkten Vollstreckungszugriffs ist in jeder zivilisierten Rechtsordnung verwirklicht[105] und entspricht den Menschenrechten. Wichtig ist nur, stets im Auge zu behalten, dass elementare Rechte des Gläubigers verletzt sind, wenn die Beschränkung des Vollstreckungszugriffs zur Rechtsverweigerung entartet.
a) Bedeutung
6.71
Die Liquidation des Schuldnervermögens zur Gläubigerbefriedigung kann in förmlichen Verwertungsverfahren erfolgen oder freihändig nach dem Ermessen des zuständigen Vollstreckungsorgans. Denkbar sind z.B. Zwangsversteigerung nach festen Regeln oder freihändiger Verkauf. Es stehen sich formgebundene oder freie Verwertung als Gestaltungsprinzipien gegenüber[106].
b) Die Ausformung im geltenden Recht
6.72
Das deutsche Einzelvollstreckungsrecht ist vom Grundsatz formgebundener Verwertung beherrscht. Bewegliche Sachen werden versteigert (§§ 814 ff.), Forderungen werden zur Einziehung oder an Zahlungs statt dem Vollstreckungsgläubiger überwiesen (§§ 835 ff., 846 ff.), Immobilien wiederum nach den ausführlichen Regeln des ZVG versteigert oder zwangsverwaltet. Ausnahmsweise gestattet das Gesetz die freie andersartige Verwertung (§§ 825, 844), wobei eine Einschaltung des Vollstreckungsgerichts seit der 2. Zwangsvollstreckungsnovelle 1999 nicht mehr stets obligatorisch ist (§ 825 Abs. 1 n.F.).
Der Grundsatz formgebundener Verwertung dient dem Schutz des Schuldners vor Verschleuderung seiner Habe. In der Praxis hat er manchmal zu Unbeweglichkeiten geführt, weshalb Reformüberlegungen zu Recht eine Auflockerung anstreben. So kann z.B. auch bei Immobilien die Vermietung eine effektive und schonende Verwertungsform sein[107]. Der Grundsatz formgebundener Verwertung hängt mit dem numerus clausus der Vollstreckungsarten[108] und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit staatlichen Eingriffes in schuldnerische Freiheitsrechte[109] zusammen.
a) Bedeutung
6.73
Die Liquidationseingriffe in das schuldnerische Vermögen müssen möglichst effektive Verwertung garantieren und den Schuldner und nachrangige Gläubiger vor unterwertiger Veräußerung schützen. Dabei kann das Vollstreckungsrecht formalisierte Verfahrensregeln gegen Verschleuderung entwickeln und sich auf Haftungsansprüche gegen schlecht verwertende Vollstreckungsorgane beschränken, eine Lösung, die z.B. im Insolvenzrecht gewählt ist[110].
b) Geltung im gegenwärtigen Recht
6.74
Das gegenwärtige Einzelvollstreckungsrecht kennt formalisierte Regeln gegen Verschleuderung. In der Mobiliarvollstreckung schützen §§ 812, 813, 817a gegen unterwertige Liquidation des Pfändungsgutes, in der Immobiliarvollstreckung kommt den §§ 30c, 74a, 85, 85a ZVG verschleuderungshindernde Wirkung zu. Dabei legt der Gesetzgeber eine Quote des Verkehrswertes des Pfandgutes als Mindesterlös fest und gestattet unterwertige Veräußerung erst mit Verzögerung und unter Kautelen.
c) Würdigung
6.75
Der Grundsatz effektiver Verwertung entfließt dem Gebot der Verhältnismäßigkeit staatlichen Vollstreckungszugriffs und dem Gebot schonender Rechtsdurchsetzung unter Privaten. Der Maßstab des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes lässt sich aber nicht in der Weise konkretisieren, dass bei Vollstreckungen der Nutzen für den Gläubiger den Schaden beim Schuldner in Gestalt unterwertiger Veräußerung überwiegen müsse[111]. Andernfalls wären Kleinforderungen gegenüber Schuldnern mit wertvollem, aber schwer verkäuflichem Pfandgut nicht mehr vollstreckbar. Man muss auch immer sehen, dass der Schuldner selbst freiwillig günstiger liquidieren kann, falls dies möglich ist, und nicht den angeblich unverhältnismäßigen Vollstreckungszugriff abzuwarten braucht. Rechtsvergleichend ist deshalb der formale Verschleuderungsschutz durchaus keine feste Größe[112].
§ 7 Vollstreckung und Verfassung
Schrifttum:
Brox, Zur Frage der Verfassungswidrigkeit der §§ 1362 BGB, 739 ZPO, FamRZ 1961, 281; Gaul, Billigkeit und Verhältnismäßigkeit in der zivilgerichtlichen Vollstreckung öffentlichrechtlicher Abgaben, JZ 1975, 279; J. Mohrbutter, Zu den Rechtsfolgen der Entscheidung des BVerfG vom 24.3.1976 für das Zwangsversteigerungsverfahren, DRiZ 1977, 39; Quack, Verfahrensrecht und Grundrechtsordnung, Rpfleger 1978, 197; Morgenstern, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und Erzwingungshaft zur Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung, NJW 1979, 227; Alisch, Wege zur interessengerechten Auslegung vollstreckungsrechtlicher Normen, 1981; Schiffhauer, Die Geltendmachung von Bagatellforderungen in der Zwangsversteigerung, ZIP 1981, 832; E. Peters, Die richterliche Anordnung der Zwangsvollstreckung nach § 758 ZPO – Wege und Irrwege, FS F. Baur, 1981, S. 549; Polzius, Staats- und verfassungsrechtliche Grundlagen der Rechte und Pflichten des Schuldners, DGVZ 1982, 97; Gerhardt, Bundesverfassungsgericht, Grundgesetz und Zivilprozess, speziell: Zwangsvollstreckung, ZZP 95 (1982), 467; Vollkommer, Verfassungsmäßigkeit des Vollstreckungszugriffs, Rpfleger 1982, 1; Bittmann, Erzwingungshaft und Grundgesetz, Rpfleger 1983, 261; Lippross, Grundlagen und