Handbuch des Strafrechts. Jörg Eisele. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Eisele
Издательство: Bookwire
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Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783811449664
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seinen Zustand sowie die Behandlungsoptionen frei von äusserem Druck oder Zwang gegen eine weitere Behandlung zu entscheiden, haben der Arzt sowie Dritte diesen Entschluss zu respektieren – dies gilt ungeachtet dessen, ob das Stadium der unmittelbaren Todesnähe bereits erreicht ist oder nicht.[340] Dies ergibt sich bereits aus der Strafbarkeit des ärztlichen Heileingriffs[341], aber auch aus der Abwägung des verfassungsrechtlich in Art. 10 Abs. 2 BV verankerten Selbstbestimmungsrechts mit der Schutzpflicht des Lebens.[342] In derartigen Konstellationen tritt das Lebenserhaltungsrecht hinter das Selbstbestimmungsrecht zurück.[343] Bei urteils- oder äusserungsunfähigen Patienten, die im Sterben liegen, ist eine Rechtfertigung nur auf Basis einer schriftlich vorliegenden Patientenverfügung nach den Bestimmungen der Art. 370 ff. ZGB möglich.[344] Gemäss Art. 372 Abs. 2 ZGB hat der behandelnde Arzt der Patientenverfügung grundsätzlich zu entsprechen, ausser wenn diese gegen gesetzliche Vorschriften verstösst oder wenn begründete Zweifel bestehen, dass sie auf freiem Willen beruht oder noch dem mutmasslichen Willen des Patienten entspricht.[345] Zudem müssen die in Art. 371 Abs. 1 ZGB statuierten formellen Anforderungen eingehalten werden.[346] Liegt keine Patientenverfügung vor oder ist diese unklar und sind vertretungsberechtigte Personen vorhanden, entscheiden diese gemäss Art. 378 Abs. 3 ZGB nach dem mutmasslichen Willen und den objektiven Interessen der urteilsunfähigen Person.[347] Widersprechen sich der mutmassliche Wille und die objektiven Interessen, ist ersterem Vorrang zu geben.[348] Zur Feststellung des mutmasslichen Willens müssen insbesondere frühere Äusserungen des Patienten, seine religiösen und sonstigen Wertvorstellungen und Aussagen von nächsten Familienangehörigen oder Bezugspersonen beachtet werden.[349] Ist der mutmassliche Wille nicht feststellbar, muss anhand objektiver Kriterien entschieden werden, ob eine Lebensverlängerung sinnvoll erscheint oder nicht.[350] Umstritten ist, ob gemäss dem Grundsatz „in dubio pro vita“ von einem Abbruch lebenserhaltender Massnahmen eher abzusehen ist oder ob in Extremfällen auch patientenexterne Faktoren (etwa die Sinnlosigkeit der Lebensaufrechterhaltung, die Unzweckmässigkeit medizinischer Massnahmen oder die Unzumutbarkeit der Lebenserhaltung für den Klinikbetrieb) als Rechtfertigung herangezogen werden können.[351] Lassen sich keine Anhaltspunkte für die Feststellung des individuellen mutmasslichen Willens des Patienten finden, kann eine Rechtfertigung nicht mehr auf das grundrechtliche Überwiegen des Selbstbestimmungsrechts gestützt werden.[352] Die Rechtfertigungsgründe der mutmasslichen Einwilligung des Verletzten bzw. der Geschäftsführung ohne Auftrag (Art. 419, 422 OR) oder des rechtfertigenden Notstandes greifen im Sonderfall der Sterbehilfe nicht, weil ihr Grundgedanke auf einen Erfolg oder Vorteil der Behandlung ausgerichtet ist.[353] Vorzuziehen ist deshalb zur Rechtfertigung der passiven Sterbehilfe im engeren Sinne bei Urteilsunfähigen die Einschränkung der ärztlichen Berufspflicht und somit der Garantenstellung, welche in denjenigen Fällen entfällt, in welchen die Pflicht des Arztes zur Leidensverminderung in den Vordergrund rückt, da sich bei hohem Behandlungsaufwand nur geringfügige lebensverlängernde Wirkungen realisieren lassen und das Leiden unter Umständen intensiviert wird.[354] Liegt ein Fall passiver Sterbehilfe im weiteren Sinne bei Urteilsunfähigen vor – dies betrifft vor allem Personen in einem persistent vegetative state – und besteht eine Patientenverfügung oder ein feststellbarer mutmasslicher Wille, ist die Unterlassung der Lebensverlängerung gerechtfertigt, da die Selbstbestimmung in einer grundrechtlichen Abwägung vor die Lebenserhaltungspflicht tritt.[355] Ist auch ein mutmasslicher Wille des Patienten nicht feststellbar, folgt die h.L. den SAMW-Richtlinien, welche einen Verzicht auf lebenserhaltende Massnahmen bei Langzeitkomapatienten als gerechtfertigt ansehen, wenn der irreversible und definitive Verlust seiner kognitiven Fähigkeiten, der Willensäusserung und der Kommunikation nach mehrmonatiger Beobachtungszeit wiederholt bestätigt wird.[356]

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