24
Mangels gesetzlichen Maßstabs liegt die Definition der tatbestandsmäßigen Beweggründe, d.h. die Festlegung der Niedrigkeits-Kriterien, in richterlicher Verantwortung. Mit Unterstützung durch die Strafrechtswissenschaft, die gewisse Leitlinien entwickelt,[121] baut die Rechtsprechung an einer Kasuistik, die dem unbenannten Merkmal allmählich Konturen verleiht und die Unberechenbarkeit der Entscheidung mildert.[122] Aus der Vielzahl der Vorschläge und Fälle ein Einheitsprinzip herauszuarbeiten, ist allerdings unmöglich.[123] Entweder ist es zu abstrakt und nichtssagend oder es vermag der Vielfalt und Verschiedenheit nicht gerecht zu werden. Die Rechtsprechung hält eisern an einer tautologischen[124] Leerformel fest: „Sonstige niedrige Beweggründe sind solche, die nach allgemeiner sittlicher Wertung auf tiefster Stufe stehen, durch hemmungslose Eigensucht bestimmt und deshalb besonders verachtenswert sind.“[125] Allgemein wird man die relevante „Niedrigkeit“ als ein krasses Missverhältnis zwischen dem Unrechtsgewicht der vorsätzlichen Vernichtung eines Menschenlebens und den Gründen, die der Täter für seine Tat anführt, charakterisieren können. Eine Tötung nicht zu begehen, setzt ausreichendes Hemmungsvermögen voraus. Die zur Tat drängenden Antriebe müssen zurückgedrängt werden. Da kaum eine Tötung ohne jeden Grund begangen wird und das Hemmungsvermögen mit den Gründen korreliert, bedarf es je nach Grund unterschiedlich großer psychischer Anstrengungen, die Tat nicht zu begehen. Niedrig ist der Beweggrund, wenn diese Anstrengung extrem gering ist und der Täter deswegen keinerlei Verständnis verdient. Extrem gering ist die Anstrengung, wenn der Grund, den der Täter für seine Tat hat, geradezu „lächerlich“ ist.[126] Da die Anstrengungsbereitschaft oder Anstrengungsfähigkeit des Täters gleichwohl nicht ausgereicht hat, ist diese Beurteilung nicht aus der Sicht des Täters, sondern von objektiver Warte zu treffen. Nicht der Täter misst die Niedrigkeit der Beweggründe, sondern die Rechtsgemeinschaft, im konkreten Fall also letztlich das Gericht.
25
Schon die Charakterisierung der drei ersten Mordmerkmale der 1. Gruppe als „gesetzliche Beispiele niedriger Beweggründe“[127] deuten an, dass es um diese benannten Beweggrundmerkmale herum einen Bereich gibt, in dem Fälle mit großer Ähnlichkeit angesiedelt sind.[128] Obwohl diese Fälle das benannte Mordmerkmal nicht vollständig erfüllen, können sie auf Grund ihrer Ähnlichkeit den gleichen Strafwürdigkeitsgehalt aufweisen und deshalb Mordstrafbarkeit rechtfertigen. Soweit es sich um motivationale Umstände handelt, kommen die sonstigen niedrigen Beweggründe als Auffangbecken in Betracht. Die Anerkennung der „mordmerkmalsähnlichen niedrigen Tatsachen“ gilt daher auch als dem Grunde nach unproblematisch.[129] Beispielsweise fällt die Tötung zur Erregung des Sexualtriebs nicht unter „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“, wohl aber unter „sonst niedrige Beweggründe“. In dem Gesetzesentwurf von Eser (oben Rn. 2 ff.) sind deshalb die Intention der Erregung und der Befriedigung des Geschlechtstriebs als Regelbeispiele eines besonders schweren Falls gleichgestellt.[130]
26
Vor eine besondere Wertungsaufgabe stellt das Beweggrund-Mordmerkmal die Schwurgerichte auf Grund der Zunahme von zugewanderten Tatverdächtigen (mit „Migrationshintergrund“), deren Einstellung zur Achtung des Lebens von Mitmenschen durch die Aneignung von Werten in einem fremden sozio-kulturellen Lebensraum geprägt worden ist. In Fällen der Tötung als „Ehrenmord“ oder „Blutrache“ stellt sich das Problem, welcher Maßstab der Bewertung als „niedrig“ zugrunde zu legen ist und welche Bedeutung der Umstand hat, dass der Tatverdächtige in seinem Herkunftsland und somit während seiner Adoleszenz von diesem Maßstab abweichenden Einflüssen ausgesetzt war.[131] Im Ausgangspunkt müssen die in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschenden Wertvorstellungen maßgebend sein.[132] Dies hat der 2. Strafsenat in einer Blutrache-Entscheidung folgendermaßen ausgedrückt: „Der Maßstab für die Bewertung eines Beweggrundes ist den Vorstellungen der Rechtsgemeinschaft in der Bundesrepublik Deutschland zu entnehmen, vor deren Gericht sich der Angekl. zu verantworten hat, und nicht den Anschauungen einer Volksgruppe, die die sittlichen und rechtlichen Werte dieser Rechtsgemeinschaft nicht anerkennt. Tötung aus Blutrache, bei der sich der Täter seiner ‚persönlichen Ehre und der Familienehre‘ wegen gleichsam als Vollstrecker eines von ihm und seiner Familie gefällten Todesurteils über die Rechtsordnung und einen anderen Menschen erhebt, ist als besonders verwerflich und sozial rücksichtslos anzusehen. Besonders in einer Rechtsgemeinschaft, die das Lebensrecht des Menschen so hoch einschätzt, dass sie es auch einem Täter nicht aberkennt, der denkbar schwerste verbrecherische Schuld auf sich geladen hat, ist Tötung aus dem Motiv der Blutrache in der Regel in höchstem Maße verwerflich und begründet die Annahme niedriger Beweggründe“.[133] Die Entscheidung des Einzelfalls hat indessen die Person des Angeklagten zu würdigen und darf dabei nicht daran vorbeigehen, dass dem Angeklagten bei Begehung der Tat das geringe Maß an Hemmungsvermögen, das zur Vermeidung einer Tötung aus „niedrigen“ Gründen erforderlich ist, tatsächlich nicht zur Verfügung stand: „Wurde der einem fremden Kulturkreis – der Blutrache duldet oder gar fordert – entstammende Täter noch derart stark von den Vorstellungen und Anschauungen seiner Heimat beherrscht, dass er sich von ihnen zur Tatzeit aufgrund seiner Persönlichkeit und der gesamten Lebensumstände nicht lösen konnte, dann kann ausnahmsweise auch bei einer Tötung aus Blutrache eine Verurteilung lediglich wegen Totschlages in Betracht kommen.“[134] Da die Ahndung allein auf der Basis und im Rahmen der Tatschuld zulässig ist, darf bei einem schon längere Zeit in Deutschland lebenden Tatverdächtigen auf unzureichende Anpassung an und Internalisierung von hier herrschenden Wertungen nur sehr zurückhaltend abgestellt werden.[135]
f) Mordmerkmale § 211 Abs. 2 StGB – 2. Gruppe
27
Mordmerkmale der „2. Gruppe“ des § 211 Abs. 2 StGB sind Heimtücke, Grausamkeit und gemeingefährliche Mittel. Gemeinsames Charakteristikum der drei Merkmale ist die besondere Ausführungsweise der Tötungshandlung.[136]
aa) Heimtücke
28
Dafür, dass § 211 StGB heftig in der Kritik steht und als dringend reformbedürftig eingeschätzt wird, gibt es mehrere Gründe. An erster Stelle steht die Starrheit der absolut gesetzten lebenslangen Freiheitsstrafe, also die Sanktionsregelung. Auf der Tatbestandsebene ist es neben der Beweggrundgeneralklausel das Merkmal „Heimtücke“, das dafür sorgt, dass die geltende Fassung des Mordparagraphen quasi unter Dauerbeschuss gesetzeskritischer Literatur steht.[137] Gleichwohl wollte die von Justizminister Maas eingesetzte Expertengruppe nicht die Streichung des Merkmals empfehlen. Zur Erklärung der Mordtauglichkeit dieses Tatmerkmals wird auf die „besonders gefährliche Tatausführung“ verwiesen.[138] Dies trifft zwar zu, ist aber ungenau und erklärt gar nichts. Denn jede erfolgreiche Tötung ist ex post betrachtet eine besonders gefährliche Vorgehensweise. Die spezifische „besondere Gefährlichkeit“ der heimtückischen Tötung besteht darin, dass sie auch physisch starke und robuste Menschen in die Lage bringen kann, gegenüber Angriffen physisch an sich unterlegener Täter chancenlos zu sein. Heimtückische Tötung gilt deswegen auch als Methode der Schwachen, nicht zuletzt von Frauen gegenüber männlichen Opfern („Haustyrannentötung“).[139] Gewiss schwingt bei der Bewertung der heimtückischen Tötungsweise als besonders „verwerflich“ auch archaische Verachtung des Täters mit, der sein Opfer „feige“ von hinten meuchelt, weil er sich nicht traut, seinem Gegner mutig und offen im