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Den bei § 30 OWiG vorhandenen Anwendungs- und Vollzugsdefiziten soll vor allem die Einführung des Legalitätsprinzips abhelfen, was konsequent erscheint, da die Strafverfolgungsbehörden bei der Begehung von Verbandsstraftaten ohnehin stets Strafverfahren gegen diejenigen natürlichen Personen betreiben, die gehandelt oder unterlassen haben. Aus verfahrensökonomischen Gründen und zur Vermeidung sich widersprechender Entscheidungen wird regelmäßig eine gemeinsame Verfolgung geboten sein, wodurch Synergieeffekte erzielt werden können.[585] Allerdings wird zu Recht darauf hingewiesen, dass in Europa die weitaus meisten Staaten bei der Regelung ihres Verbands- bzw. Unternehmensstrafrechts dem Opportunitätsprinzip folgen,[586] so dass die Geltung des Legalitätsprinzips kein zwingendes Merkmal eines effektiven Verbandssanktionenrechts ist. Zudem soll der Verfolgungszwang – wie im Strafrecht – nicht uneingeschränkt gelten (§§ 35 ff. VerSanG-E).[587] In der Praxis dürfte von den Einstellungsmöglichkeiten in großem Umfang Gebrauch gemacht werden,[588] so dass die Einführung des Legalitätsprinzips sich als bloße „symbolische Aufwertung“[589] erweisen könnte. Hierfür werden, wenn nicht gegengesteuert wird, angesichts der hohen Anzahl von Verfahren – der Referentenentwurf erwartet jährlich 15 000 (!) Meldungen an das Register[590] (wobei allerdings auch Verbandsgeldbußen über 300 Euro eingeschlossen sind) – u.a. die knappen personellen Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden verantwortlich sein,[591] womit das Legalitätsprinzip ins Leere zu laufen droht. Schließlich werden konsensuale Formen der Verfahrenserledigung zunehmen, da die Drohung mit einem öffentlichen Strafverfahren massiven Druck auf die Verbände ausübt.
4. Verfahrensvorschriften, insb. Berücksichtigung verbandsinterner Untersuchungen
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Ein großes Defizit des bisherigen Rechts stellt es dar, dass spezielle gesetzliche Verfahrensregeln fehlen. Das VerSanG soll insb. auch Anreize für die Durchführung von internen Verbandsuntersuchungen sowie zur Förderung von Compliance-Maßnahmen schaffen, die freilich nicht näher präzisiert werden, obwohl dies durch den Verweis auf bestehende Regelwerke möglich wäre.[592] Zu großer Verunsicherung hat in der Praxis der Jones-Day-Beschluss des BVerfG[593] vom 27. Juni 2018 geführt. Der VW-Konzern hatte im September 2015 im Zuge der Diesel-Affäre die US-amerikanische Kanzlei Jones Day mit internen Untersuchungen beauftragt, deren Rechtsanwälte Dokumente sichteten und konzernweit Mitarbeiter befragten. Die Staatsanwaltschaft München II ließ daraufhin nicht nur die Zentrale der VW-Tochter Audi, sondern auch die Kanzlei durchsuchen und Unterlagen beschlagnahmen. Das BVerfG hatte zunächst mit Beschlüssen vom 25. Juli 2017 einstweilige Anordnungen[594] erlassen, letztlich wurden die Verfassungsbeschwerden aber nicht zur Entscheidung angenommen. Bestätigt wurde vielmehr die Beschwerdeentscheidung des LG München I vom 8. Mai 2017,[595] wonach das Beschlagnahmeverbot des § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO nur im Rahmen des Vertrauensverhältnisses zwischen einem Rechtsanwalt und einem Beschuldigten gelte, VW jedoch in dem Ermittlungsverfahren gegen Audi kein Beschuldigter gewesen sei. Zudem fehle es an einer beschuldigtenähnlichen Stellung, da diese nicht schon dann vorliege, wenn ein Unternehmen eine interne Untersuchung in Auftrag gebe, vielmehr müsse sich die Einleitung eines Verfahrens gegen die juristische Person „objektiv abzeichnen“, wofür allein die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes einer Leitungsperson nicht genüge. Damit versetzte der Beschluss die Unternehmen in ein Dilemma: Einerseits besteht gesellschaftsrechtlich die Pflicht, interne Untersuchungen durchzuführen, andererseits können die Ergebnisse von den Strafverfolgungsbehörden gegen das Unternehmen, Konzerngesellschaften oder Mitarbeiter verwendet werden, solange diese nicht Beschuldigte eines Ermittlungsverfahrens sind und ein Mandatsverhältnis mit der jeweiligen Kanzlei unterhalten. Ein Unternehmen kann also gezwungen sein, eine sich selbst belastende Faktenlage zu schaffen, die dann gegen das Unternehmen verwendet werden kann.
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Der „Kölner Entwurf“ wollte dieses Dilemma auflösen, indem er für Aufzeichnungen über interne Untersuchungen ein Beschlagnahmeverbot vorsah und für Angaben, die ein Zeuge bei einer Befragung im Rahmen einer internen Untersuchung gemacht hatte, eine Widerspruchslösung einführen wollte (§ 18 Abs. 2 und 3 E-VerbSG). Danach wären Angaben, die ein Mitarbeiter in einer internen Untersuchung gemacht hat, in einem gegen ihn gerichteten Strafverfahren ohne seine Zustimmung nicht verwertbar (Beweisverwertungsverbot).[596] Damit sollte vermieden werden, dass die verbandsinterne Untersuchung zu einer „Materialsammlung für die Anklagebehörde“ wird.[597] Denn Unternehmen ist das Recht zuzugestehen, in einem weitgehend geschützten Raum den Ergebnissen interner Untersuchungen und Compliance-Erkenntnissen Rechnung zu tragen.[598] Schützende Regelungen, die sich die Praxis in Anlehnung an das US-amerikanische Recht mit seiner klaren Trennung von Aufklärungs- und Verteidigungsphase[599] erhofft hatte, insb. ein Beschlagnahmeschutz und Verwertungsverbote, sind jedoch im VerSanG-E nicht enthalten – im Gegenteil: Die vorgesehene Änderung des § 97 I Nr. 3 StPO beschränkt das Beschlagnahmeverbot ausdrücklich auf Fälle, in denen ein Vertrauensverhältnis zwischen Beschuldigtem und Zeugnisverweigerungsberechtigtem besteht, um klarzustellen, dass eine Sachverhaltsaufklärung, die vor dem Vorliegen einer Beschuldigtenstellung stattfindet oder anderen Zielen dient, z.B. der internen Compliance, gerade nicht dem Beschlagnahmeschutz unterliegt.[600] Dies soll insb. auch dann gelten, wenn die Konzernobergesellschaft – und nicht der von der Beschlagnahme betroffene Verband – den Berufsgeheimnisträger mandatiert hat.[601] Anwaltliche Arbeitsprodukte (z.B. Interviewprotokolle, Berichte, Präsentationen), die im Rahmen von internen Untersuchungen angefertigt wurden, wären damit weitgehend schutzlos. Damit würde zwar die Rechtslage im Sinne des Jones-Day-Beschlusses klargestellt, jedoch eine zentrale Norm des Strafprozessrechts zum Nachteil der Verbände – wie auch natürlicher Personen – eingeschränkt. Die Ermittlungstätigkeit würde auf die privaten Institutionen verlagert werden, den Verfolgungsbehörden würden die internen Ermittlungsergebnisse (ressourcenschonend) „auf dem Silbertablett“ serviert.[602]
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Hinzu kommt, dass die Voraussetzungen für die Milderung der Verbandssanktion (§ 17 VerSanG-E) sehr hoch sind, und selbst dann die Sanktion nur um 50 % (§ 18 VerSanG-E), also bei Großunternehmen auf maximal 5 % des durchschnittlichen Jahresumsatzes, gemildert werden „soll“ (der erste Referentenentwurf hatte sogar nur eine „Kann“-Regelung vorgesehen). Hierfür muss der Verband nicht nur „wesentlich“ zur Aufklärung der Verbandstat beigetragen, sondern auch „ununterbrochen und uneingeschränkt“ mit den Strafverfolgungsbehörden zusammengearbeitet haben, das „Ergebnis der verbandsinternen Untersuchung einschließlich aller für die verbandsinterne Untersuchung wesentlichen Dokumente“ sowie den „Abschlussbericht“ zur Verfügung stellen (§ 17 Abs. 1 Nr. 1, 3, 4 VerSanG-E). Welche Konsequenzen diese Häufung unbestimmter Rechtsbegriffe haben wird, ist unklar.[603] Schließlich muss der Verband die verbandsinterne Untersuchung „unter Beachtung der Grundsätze eines fairen Verfahrens“ durchgeführt haben, was hinsichtlich Hinweispflichten auf Rechte, die den Befragten zustehen, u.a. das Auskunftsverweigerungsrecht bei drohender Selbstbelastung, konkretisiert wird (§ 17 Abs. 1 Nr. 5 lit. a-c VerSanG-E). Der erste Referentenentwurf hatte sogar verlangt, dass die verbandsinterne Untersuchung „in Übereinstimmung mit den geltenden Gesetzen“ durchgeführt wird (§ 17 Abs. 1 Nr. 6 VerSanG-eRefE), wobei es nach Vorstellung der Verfasser insb. um die Einhaltung der datenschutzrechtlichen und arbeitsrechtlichen Bestimmungen gehen sollte.[604] Gemäß diesem „Alles-oder-nichts-Prinzip“ hätte dem Verband auch bei kleinsten Formfehlern und Rechtsverstößen die Milderung versagt werden können.[605]
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Seitens der Praxis wird darauf hingewiesen, dass das vorgesehene Auskunftsverweigerungsrecht, das dem Nemo-Tenetur-Grundsatz Rechnung tragen soll, bei der Durchführung verbandsinterner Untersuchungen kontraproduktiv ist. Denn eine „wesentliche“ Aufklärung von Sachverhalten ist ohne eine „Vollaussage“ gar nicht