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Das alles kann aber eine Tatherrschaft der Ehefrau nicht begründen. Denn ihr Verhalten erfüllt nicht einmal den Tatbestand der Nötigung, liegt also weit unterhalb der Schwelle eines tatherrschaftsbegründenden Zwanges. Näher liegt es, aus dem vom BGH festgestellten „lang anhaltenden deprimierten Zustand“ des Ehemannes eine die mittelbare Täterschaft der Frau begründende verantwortungsausschließende Depression des Mannes abzuleiten. Aber dieser Möglichkeit ist der BGH nicht weiter nachgegangen.
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Man kann daher zur Annahme einer mittelbaren Täterschaft nur kommen, wenn man die Tatherrschaft bei einer Veranlassung zum Suizid oder wenigstens bei vorgetäuschten Doppelselbstmorden anderen Regeln unterstellt als die Veranlassung zur Begehung von Delikten. Ich hatte das ursprünglich getan,[103] Neumann[104] hat diese Annahme weiter entwickelt, und auch Schünemann[105], der bei Drittschädigungen die Hervorrufung von Motivirrtümern nicht für eine mittelbare Täterschaft ausreichen lässt, will bei Suiziden eine Ausnahme machen.
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So schreibt Letzterer, beim Suizid sei „eine besondere Konstellation gegeben. Weil das Individuum weder rechtlich gehindert ist, sich selbst zu verletzen oder gar zu töten, noch dabei ein anderes Hindernis als den eigenen Lebenswillen überwinden muss, sind hier allein der Suizidentschluss und das dahin führende Motiv als ‚Grund des Erfolges‘ anzusehen, so dass ein Hintermann, der den Suizidentschluss durch eine Täuschung auslöst oder zumindest ausnutzt, hierüber die Herrschaft ausübt und deshalb mit Recht als mittelbarer Täter verantwortlich gemacht wird.“
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Abgesehen davon, dass der „Lebenswille“ in der Regel ein stärkeres Hemmungsmotiv begründet als ein rechtliches Verbot,[106] kommt es aber doch auf die Freiheit des Suizidentschlusses an. Daran wird es oft fehlen. Wo sie aber vorliegt, kann ein Motivirrtum diese Freiheit so wenig beeinträchtigen wie in anderen Fällen.
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Hinzu kommt, dass gerade bei einem fälschlich angenommenen Doppelselbstmord der Irrtum neben anderen Gründen in der Regel nur eine untergeordnete Rolle spielt. Niemand begeht ja nur deshalb Selbstmord, weil ein anderer dies tun will. Auch in dem vom BGH entschiedenen Fall lagen die entscheidenden Beweggründe für den Sterbewillen des Mannes in der Untreue seiner Frau und in seinem „deprimierten Zustand“. Diese Annahme wird dadurch bestätigt, dass der Mann, nachdem ihm sein Irrtum klar geworden war, noch einen zweiten Schluck des Giftes zu sich nahm. Er wollte also sterben, obwohl er nunmehr wusste, dass seine Frau nicht mit in den Tod gehen wollte.
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In der neueren Kommentarliteratur teilen vor allem Hoyer[107] und Joecks[108] die hier vertretene Meinung.[109] Mit Recht sagt Joecks, es sei „nicht angängig …, im Hinblick auf die Tatbestandslosigkeit der Selbstschädigung eine andere Definition von ‚Herrschaft‘ zu entwickeln, um die drohende Straflosigkeit des Hintermannes zu vermeiden. Die Abgrenzung zwischen mittelbarer Täterschaft und strafbarer Teilnahme an fremder Haupttat gibt zugleich die Regeln vor, mit denen die Beteiligung an fremder Selbstschädigung zu beurteilen ist.“
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Freilich ist nicht zu leugnen, dass das Verhalten der Ehefrau in Fällen der vorliegenden Art strafwürdig ist. Aber dem kann nicht durch die Konstruktion einer mittelbaren Täterschaft, sondern nur dadurch abgeholfen werden, dass für die eigensüchtige Verleitung zum Suizid ein eigener Straftatbestand geschaffen wird.[110]
12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme › § 52 Mittelbare Täterschaft › E. Die Willensherrschaft bei Schuldunfähigen und vermindert Schuldfähigen
I. Der schuldunfähige Tatmittler
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Wer sich zur Begehung eines Deliktes eines Kindes (§ 19 StGB), eines im Sinne des § 3 JGG unreifen Jugendlichen oder eines nicht Zurechnungsfähigen (§ 20 StGB) bedient, ist mittelbarer Täter. Die mittelbare Täterschaft ergibt sich entweder aus der fehlenden Einsichtsfähigkeit des unmittelbar Ausführenden und ist dann nach den beim Verbotsirrtum geltenden Regeln zu behandeln (oben Rn. 90 ff.), oder sie folgt aus seiner mangelnden Normbefolgungsfähigkeit, die dem Hintermann – ähnlich wie in den Fällen verantwortungsausschließenden Notstandes (oben Rn. 26 ff.) – die Tatherrschaft vermittelt. Die Schuldlosigkeit des Ausführenden hat zur Folge, dass dem Hintermann die täterschaftliche Verantwortung für das Unrechtsgeschehen zugewiesen wird. Das entspricht der ganz h.M.[111]
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Vereinzelt wird in der Literatur in solchen Fällen auch eine bloße Anstiftung für möglich gehalten.[112] Diese Ansicht kann sich auf RGSt 61, 265 berufen. Hier hatte der Angeklagte seinen 13-jährigen Enkel zu einer Brandstiftung veranlasst und wurde nur als Anstifter bestraft, weil das Kind für das von ihm begangene Unrecht „nicht volles, so doch hinreichendes Verständnis“ gehabt habe. So will auch Welzel[113] nur eine Anstiftung annehmen, wenn das Kind oder der Geisteskranke im Einzelfall „einen eigenen Willen entfalten“ konnte. Jakobs[114] bejaht eine Teilnahme oder Mittäterschaft, wenn „das Kind entgegen der gesetzlichen Vermutung vorzeitig zur Normerkenntnis und -befolgung“ reif ist. Köhler[115] meint, wer sich eines kleinen Kindes bediene, beziehe sich „auf ein überhaupt normreflektierendes Subjekt, er ist daher nicht mittelbarer Täter, sondern Anstifter“. Man möge zwar von „Tatherrschaft“ über ein „Werkzeug“ sprechen. „Aber danach ist der Tatmittler ein an sich freies Subjekt, das nur in bestimmter Hinsicht … zum Mittel fremder Unrechtsmaxime werden kann.“
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Aber alle diese Lehren, die teils generell, teils nur in bestimmten Fällen eine Anstiftung annehmen wollen, gehen an der gesetzlichen Regelung vorbei: Denn diese geht davon aus, dass der unmittelbar Handelnde – ob nun als Kind, als unreifer Jugendlicher oder Zurechnungsunfähiger – sein Verhalten nicht an der Norm orientieren kann. Er ist schuldlos. Abweichende Würdigungen sind nicht vorgesehen. Der vom Gesetzgeber für schuldlos Erklärte trägt sogar weniger Verantwortung als viele, die ohne Tatbestandsvorsatz handeln, aber auf Grund unbewusster oder bewusster Fahrlässigkeit durchaus nicht schuldlos sind. Wenn in diesen Fällen ein „Handeln durch einen anderen“ und damit eine mittelbare Täterschaft angenommen wird, kann vernünftigerweise bei einer vollkommenen Schuldlosigkeit des Tatmittlers nichts Anderes gelten.
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Richtig ist freilich, dass der Gesetzgeber einen generalisierenden Maßstab verwendet, wenn er Kinder für schlechthin schuldunfähig erklärt. Aber das tut er im Fall des § 35 StGB ebenfalls. Eine normative Grenzziehung nach dem Verantwortungsprinzip ist hier unerlässlich. Denn eine individualisierende Grenzziehung würde kaum sichere Ergebnisse ermöglichen und richterlicher Willkür Vorschub leisten.[116]
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Eine Teilnahme kommt nach den Regeln, die schon für die Nötigungsfälle entwickelt worden sind (oben