Diese Fallgruppe wird in der Regel unter dem Stichwort der irrigen Annahme schuldausschließender Umstände behandelt. Sie spielt jedoch bei Schuldausschließungsgründen im engeren Sinne keine Rolle. Wenn ein Zurechnungsfähiger sich fälschlich für zurechnungsunfähig hält, ist er gleichwohl vorsätzlicher Täter und der Hintermann nur Anstifter.
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Jedoch können Irrtümer des Handelnden über die Voraussetzungen ausgeschlossener Verantwortlichkeit in den Fällen des § 35 StGB und auch bei übergesetzlichem Verantwortungsausschluss vorkommen. Wenn jemand durch eine Todesdrohung zu einer Strafvereitelung (§ 258 StGB) veranlasst wird, die Drohung aber nur vorgespiegelt war, so ist der unmittelbar Handelnde gemäß § 35 Abs. 2 StGB straflos, wenn der Irrtum unvermeidbar war; im Fall der Vermeidbarkeit ist die Strafe zu mildern.
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Bei Konstellationen solcher Art ist der Hintermann mittelbarer Täter, weil er allein die Sachlage übersieht und die psychische Situation des Ausführenden derjenigen entspricht, die beim Vorliegen einer wirklichen Notstandssituation gegeben ist. Das gilt auch dann, wenn der Irrtum vermeidbar war. Denn die Ausnahmen, die bei einem Verbotsirrtum nach der hier vertretenen Auffassung (oben Rn. 93 ff.) in Fällen der Rechtsfeindschaft des Ausführenden in Betracht kommen, haben bei irrtümlicher Annahme von Notstandssituationen nach § 35 StGB keine Parallele. Die Regeln, nach denen ausnahmsweise beim wirklichen Notstand des Ausführenden nur eine Teilnahme des Hintermannes in Betracht kommt (oben Rn. 38 ff.), gelten hier freilich entsprechend.[75]
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Um die irrtümliche Annahme der Voraussetzungen eines übergesetzlichen Verantwortungsausschlusses handelte es sich im Katzenkönig-Fall (oben Rn. 94 ff.), wo der Handelnde glaubte, zur Rettung von Millionen Menschenleben eine Tötung vornehmen zu sollen.[76] Auch die Hervorrufung eines solchen Irrtums begründet – ob dieser nun vermeidbar war oder nicht – stets eine mittelbare Täterschaft.
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Die irrtümliche Annahme verantwortungsausschließender Umstände führt nicht selten zu einem gleichzeitigen Verbotsirrtum des Ausführenden, wofür der Katzenkönigs-Fall ein anschauliches Beispiel bildet. Denn die Annahme verantwortungsausschließender Umstände wird bei Rechtsunkundigen oft zu der Annahme führen, das Handeln sei erlaubt. Darin liegt aber kein Problem. Denn es ist ohne weiteres möglich, dass die mittelbare Täterschaft bei demselben Sachverhalt in verschiedenen Erscheinungsformen auftritt.
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Eine bloße Teilnahme liegt freilich vor, wenn der Ausführende und der Veranlassende gleichermaßen verantwortungsausschließende Umstände irrtümlich annehmen. Denn dann fehlt eine herrschaftsbegründende überlegene Kenntnis des Hintermannes.
IV. Der unmittelbar Ausführende handelt voll deliktisch
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Ob und ggf. inwieweit eine mittelbare Täterschaft auch dann möglich ist, wenn der Ausführende trotz seines Irrtums voll deliktisch handelt, ist bis heute äußerst umstritten. Ich hatte im Jahr 1976[77] drei Fallgruppen genannt, in denen die Hervorrufung eines Irrtums beim Ausführenden auch dann zur mittelbaren Täterschaft eines Hintermannes führt, wenn der unmittelbar Handelnde trotz seines Irrtums als voll verantwortlicher Vorsatztäter haftet: die Täuschung über das Ausmaß des verwirklichten Unrechts (a), die Täuschung über qualifizierende Tatumstände (b) und die Hervorrufung eines error in persona (c). Alle drei Konstellationen stehen noch heute in der Diskussion.
1. Die Täuschung über das Ausmaß des verwirklichten Unrechts
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Als Schulbeispiel für diese Konstellation dient ein von Herzberg[78] erfundener Sachverhalt: Ein Hintermann veranlasst den Ausführenden zur Vernichtung eines einem Dritten gehörenden wertvollen Kandinsky-Bildes durch die Vorspiegelung, es handele sich um ein wertloses Geschmiere. Aber auch andere Fälle dieser Art sind leicht zu bilden. So kann etwa jemand einen anderen zu einer vorgeblich leichten Körperverletzung bestimmen und dabei eine ihm bekannte besondere Anfälligkeit des Opfers verschweigen, so dass dieses keine leichte, sondern eine schwere Verletzung davonträgt. Oder jemand wird durch einen anderen veranlasst, jemanden durch Einschließung der Freiheit zu berauben. Dabei wird ihm versichert, die Einschließung werde nur kurzfristig sein, während sie in Wirklichkeit, wie der Hintermann weiß, drei Tage lang dauert.
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Bei einem solchen „graduellen“ Tatbestandsirrtum[79] wird man eine mittelbare Täterschaft des Hintermannes bejahen müssen.[80] Denn wenn der Kandinsky – um es am Ausgangsbeispiel zu verdeutlichen – hundertausendmal so viel wert ist wie ein unkünstlerisches „Geschmiere“, ist der Herrschaftsanteil des Hintermannes hunderttausendmal so groß wie der des Ausführenden, der ahnungslos ein unersetzliches Kunstwerk zerstört. Es geht nicht an, denjenigen, der den weitaus überwiegenden Teil des Unrechtsgeschehens beherrscht, nur als Randfigur (Anstifter) zu bestrafen. Entsprechendes gilt für den, der für eine gravierende Körperverletzung oder die lange Dauer einer Freiheitsberaubung allein verantwortlich ist.
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Für eine mittelbare Täterschaft sprechen noch weitere Gründe. Wer einen zur Verabreichung einer Ohrfeige Entschlossenen dazu bewegt, das Opfer krankenhausreif zu schlagen, ist wegen Anstiftung zur Körperverletzung strafbar.[81] Dann muss bei Benutzung eines im Hinblick auf die Übersteigerung ahnungslosen Werkzeugs eine mittelbare Täterschaft vorliegen.
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Die Annahme einer mittelbaren Täterschaft wird auch dadurch nahegelegt, dass eine Anstiftung zur Körperverletzung gleichzeitig ein Mord in mittelbarer Täterschaft sein kann, wenn dem zur Körperverletzung Angestifteten die tödliche Wirkung des zur Verletzung dienenden Mittels verschwiegen wird.[82] Wenn die Übersteigerung bei zwei verschiedenen Tatbeständen zur mittelbaren Täterschaft führt, muss das für eine Täuschung über die Unrechtshöhe im Rahmen desselben Tatbestandes ebenso gelten. Die mittelbare Täterschaft bei einer gravierenden Täuschung über das Maß des durch die Tat verwirklichten Unrechts wird auch nicht allein durch das überlegene Wissen des Hintermannes begründet. Auch das Hemmungsmotiv beim Ausführenden ist – im Verhältnis zum Fall einer Anstiftung – drastisch herabgesetzt. Der Vernichtung eines „wertlosen Geschmieres“ stehen nur ganz geringe, der Zerstörung eines sehr wertvollen Gemäldes dagegen fast unüberwindliche Hemmungen entgegen.
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Freilich muss man für eine mittelbare Täterschaft verlangen, dass die Täuschung zu einem erheblichen Irrtum über das Schadensausmaß führt. Eine geringfügige Differenz des Kenntnisstandes genügt nicht, um dem Hintermann die Herrschaft über eine selbstständige Tat zuzusprechen.
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Die hier befürwortete Lösung hat in der Literatur viele Anhänger[83], aber auch zahlreiche Gegner[84].
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Die Vertreter einer dem Verantwortungsprinzip auch in diesen Fällen anhängenden Anstiftungslösung berufen sich im Wesentlichen darauf, dass der unmittelbar Handelnde den Tatbestand vorsätzlich-schuldhaft verwirkliche und daher die Tatherrschaft innehabe, wodurch die Täterschaft eines Hintermannes ausgeschlossen werde. Der Irrtum des Ausführenden sei daher „ein unbeachtlicher Motivirrtum“[85]. Es handele sich lediglich um einen