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Gewiss, man kann manchen Gebrauch der Rechtsvergleichung in Frage stellen:[182] „Das rechtsvergleichende Argument ist immer selektiv, häufig zurechtgebogen, sehr häufig instrumentalisiert zur Selbstbestätigung.“[183] Allerdings ist auch festzuhalten, dass in den großen kontinentaleuropäischen Rechtskulturen, der deutschen, spanischen und italienischen, „zweifellos das französische Verwaltungsrechtssystem als historisch bedeutender Beitrag angesehen [wird], aber auch als heute überholt und ergänzungsbedürftig um die Errungenschaften anderer Rechtsordnungen, z.B. der deutschen und spanischen, insbesondere auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes.“[184] Letzteres ist auch der Standpunkt Eberhard Schmidt-Aßmanns. Für ihn steht es zu erwarten, dass das europäische Verwaltungsrecht dem Einzelnen eine stärkere Rolle im Verhältnis zur Verwaltung zuweist, „entgegen der alten französischen Konzeption, die das Verwaltungsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft prägte. Damit werden mittelbar auch die dahinter stehenden Werte des heutigen deutschen Verwaltungsrechts übernommen, das am Individualrechtsschutz ausgerichtet ist.“[185]
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Die Sache scheint also ausgemacht. Aber vielleicht müsste man doch etwas eingehender auf das Beispiel Frankreichs zurückkommen, als das hier möglich war: „Die Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft ist ein weites Forschungsfeld, das noch bestellt werden muss, aber reiche Ernte verspricht.“[186] Gleichzeitig ist die Frage nach einer Reform des Verwaltungsrechts unumgänglich. Intensiven Nachdenkens bedarf dabei die Methodenfrage, insbesondere die notwendige rechtsvergleichende Dimension, worüber freilich die Reformziele nicht aus dem Blick geraten dürfen. Intuitiv richtig scheint das Plädoyer für eine Verwaltungsrechtswissenschaft als Leitwissenschaft, mit dem Anspruch, gesellschaftliche Prozesse wirksam zu steuern.[187] Allerdings mag es auch für Irritationen bei Juristen vom Schlage eines Charles Eisenmann sorgen, der seinen Vorlesungen vorauszuschicken pflegte, dass „der theoretische oder wissenschaftliche Impetus deutlich gegenüber praktischen und anwendungsorientierten Anliegen im Vordergrund“ steht.[188] Keinen Widerspruch wird man demgegenüber mit den Thesen ernten, es sei wichtig, „die Konzepte des Verwaltungsrechts und der öffentlichen Verwaltung“ zu überdenken, einen „Perspektivenwechsel im Verwaltungsrecht“ einzuleiten und zudem „das methodologische Selbstverständnis der Verwaltungsrechtswissenschaft im Allgemeinen und ihrer Beziehungen zu den Nachbardisziplinen im Besonderen“ zu erhellen.[189]
Erster Teil Landesspezifische Ausprägungen › § 59 Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Frankreich › Bibliographie
Bibliographie
Patrick Arabeyre/Jean-Louis Halpérin/Jacques Krynen (Hg.), Dictionnaire historique des juristes français. XIIe-XXe siècle, 2007. |
Jean-Bernard Auby/Jacqueline Dutheil de la Rochère (Hg.), Droit administratif européen, 2007. |
Grégoire Bigot, Introduction historique au droit administratif depuis 1789, 2002. |
François Burdeau, Histoire du droit administratif (de la Révolution au début des années 1970), 1995. |
Jacques Caillosse, La constitution imaginaire de l’administration, 2008. |
Sabino Cassese, La construction du droit administratif. France et Royaume-Uni, 2000. |
Olivier Cayla/Jean-Louis Halpérin (Hg.), Dictionnaire des grandes œuvres juridiques, 2008. |
Jacques Chevallier, Science administrative, 42007. |
Pierre Legendre, Histoire de l’Administration de 1750 à nos jours, 1968; Neuveröffentlichung unter dem Titel: Trésor historique de l’État en France, l’Administration classique, 1992. |
Fabrice Melleray (Hg.), L’argument de droit comparé en droit administratif français, 2007. |
Jean-Louis Mestre, Introduction historique au droit administratif français, 1985. |
Anmerkungen
Der Beitrag wurde aus dem Französischen übersetzt von Matthias Kottmann. Die Überschrift ist einer Darstellung von François Burdeau, Histoire du droit administratif (de la Révolution au début des années 1970), 1995, S. 105 (Übersetzung), entnommen.
Dabei ist zu beachten, dass es „notwendigerweise eine Wechselwirkung oder gar eine innere Verknüpfung zwischen dem imaginären Konstrukt der sogenannten Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis“ gibt, so Olivier Jouanjan über sein Buch „Une histoire de la pensée juridique en Allemagne 1800–1918“, Droits 42 (2006), S. 153 (Übersetzung), mit Anmerkungen von Olivier Beaud, Otto Pfersmann und Jacky Hummel.
Pierre Legendre, Histoire de l’Administration de 1750 à nos jours, 1968; Neuausgabe unter dem Titel „Trésor historique de l’État en France, l’administration classique“, 1992, ergänzt um verschiedene weitere Aufsätze, u.a. „La royauté du droit administratif“.
Prosper Weil/Dominique Pouyaud, Le droit administratif, 212007, S. 17 (Übersetzung).
Wie soll man also über diese „Wissenschaft“ berichten? Von welchem Standpunkt aus? Auf die Gefahr hin, den Leser zu enttäuschen, werden wir diese grundlegende Frage der Methode beiseite lassen. Damit sei gleichzeitig eingestanden, dass im Falle Frankreichs, zu dem wir hier einige Einblicke zu vermitteln hoffen (was dazu aus Sicht eines Nicht-Historikers gesagt und beobachtet werden kann), der Methodenfrage zu wenig Beachtung geschenkt wurde und immer noch wird. Hätte man, um einen häufig benutzten Begriff aufzugreifen, Paradigmen identifizieren, den Übergang von einem zum anderen dokumentieren und so nach Art Thomas Kuhns die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen freilegen sollen? Gewiss! Allerdings ist „Paradigma“ auch ein mehrdeutiger Begriff. Hat ihn Kuhn am Ende nicht selbst aufgegeben, lieber von „disziplinärer Matrix“ gesprochen und damit auf ein seinerseits noch komplexeres und schwerer handhabbares Konzept verwiesen?
Legendre