Dieses Modell hierarchischer Arbeitsteilung rechtlicher Reflexionstheorien geht nicht auf. Juristische Methodenlehre kann ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn sie die Verbindung zur philosophischen Argumentationstheorie und zur sprachlichen Reflexion in Linguistik und Medientheorie herstellt. Rechtsphilosophie ohne Bezug zu den politischen Wissenschaften, zur politischen Ökonomie und zur Soziologie wäre blind. Rechtstheorie kann ohne Berücksichtigung der Sozialtheorie und Sozialphilosophie nicht ernsthaft betrieben werden. Gerade diese gegenseitigen Verwicklungen machen deutlich, dass man die drei Bereiche juristischer Theoriebildung nicht trennen kann. »Die Spaltung«, anders gewendet, »in Jurisprudenz, Ökonomie, Politik, Soziologie, Geschichte und Philosophie ist im Urteil aller Kronzeugen tot, wissenschaftslogisch nicht zu halten«[7]. Der |4|vorliegende Sammelband verzichtet daher auf eine hierarchische Kategorisierung der Reflexionstheorien.
B. Gesellschaftliche Herausforderungen als Herausforderungen für die Rechtstheorie
Das Buch reagiert auf die starke Zunahme rechtlicher Theorieproduktion. Heute findet man in früher weitgehend theorieresistenten Bereichen, wie dem Internationalen Recht und dem internationalen Wirtschaftsrecht, plötzlich eine hektische Produktion neuer Theoreme. Auch im Gebiet des Europarechts, des Kartellrechts und des europäischen Zivilrechts stellt sich in der Konsequenz der vielen Rechtsreformen zur Anpassung des nationalen Rechts an internationale Märkte plötzlich ein Bedarf für Theorie ein. Dies ist Ausdruck eines sozialstrukturellen Wandels. Man könnte ihn grob als Übergang von der nationalen Industriegesellschaft zu globalisierten Produktionsnetzwerken beschreiben. Konkret betrifft dies vornehmlich zwei Bereiche: Einmal die neue mediale Infrastruktur des Rechts im Kontext der Zunahme der immateriellen Arbeit mit der leichten Verfügbarkeit von immer mehr Informationen im Hypertext des Rechts, die die Fragmentierungen im Innern des Rechts sichtbar machen. Gleichzeitig wird mit der Globalisierung auch das Recht von einem Sog erfasst, der zu immer schnelleren Umwälzungen seiner Regelungsmassen und Grenzen führt.
Traditionelle Rechtskonzeptionen und die darauf bezogene Einführungsliteratur bleiben in der Regel hinter der Komplexität dieser Probleme zurück. Das Recht wird im »alteuropäischen Denken« als Hierarchie von Normen oder Rechtsquellen begriffen. Dahinter steht die große Erzählung des einheitlich durchorganisierten und hierarchischen Nationalstaats, der seine Normen nach einem Top-down-Modell zu produzieren vorgibt. An der Spitze thront die Idee der Gerechtigkeit. Sie ist umgeben vom Adel der Prinzipien und blickt hinunter auf das Volk der Rechtsbegriffe. Man kann, wenn es einen Fall zu entscheiden gilt, immer von den Rechtsbegriffen zu den Prinzipien gelangen. Wenn diese Prinzipien nun untereinander im Streite liegen, nimmt man Zugriff auf die zentrale Idee der Gerechtigkeit. Daraus ergibt sich ein mehrstöckiges Gebäude, worin im obersten Stockwerk die Rechtsphilosophie residiert, welche die Frage beantwortet: »Was ist Recht?«. Im Stockwerk darunter sagt die juristische Methodik, wie das Recht angewendet wird, während im Erdgeschoss die Dogmatiker vorgegebene Rechtsinhalte am Fall erkennen. Das ist das Bauwerk des »alteuropäischen Rechtsdenkens«.
Die Fundamente dieses Bauwerks sind brüchig geworden[8]. Die gesellschaftliche Ausdifferenzierung und die Globalisierung des Rechts schaffen neue, |5|vielfältige Rechtsarenen sowie neue gesellschaftliche Akteur*innen jenseits der alten nationalstaatlichen Apparate. Es wird offensichtlich, was sich im Zeitalter der westlichen Nationalstaaten noch hinter der Fassade der Bürokratie verstecken konnte: dass die hierarchische Produktion des Rechts durch das Quasi-Subjekt Staat eine Selbsttäuschung der Moderne war[9]. Recht wird vielmehr von einer Multitude von Akteur*innen, Apparaten und Systemen in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um dessen Bedeutung[10] permanent aufs Neue produziert. Heute geht es darum, das Recht als ein dynamisches System zu begreifen, das nicht einfach in einer hierarchischen Normstruktur schon vorgegeben ist, sondern hergestellt wird. Dies erfolgt in Rechtsverfahren, im Streit der Beteiligten, in richterlichen Begründungen, in Skandalisierungsprozessen, politischen Interventionen, insgesamt also in lokalen und globalen Netzwerken der Rechtskreation.
C. Schwerpunktsetzung des Sammelbandes
Die hier vorgestellten Theorieansätze stimmen darin überein, dass die Herausforderung der Gegenwart in den Widersprüchen der Moderne liegt, in der großen Sprachverwirrung, die sich aus einer radikalen Vervielfältigung unterschiedlicher kommunikativer Anschlusszusammenhänge und einem gesellschaftlichen Polytheismus ergibt, dessen Vielheit nicht einmal mehr durch zwanglos geführte Diskurse der Götter im Olymp zur Einheit domestiziert werden kann[11]. Aktuelle Rechtstheorien kreisen damit um etwas, das Jean-Francois Lyotard in das Begriffspaar litige und différend gebracht hat, Niklas Luhmann als Vielheit selbstreferentieller Systeme beschreibt und Jürgen Habermas unvereinbare Diskursuniversen nennt[12]. Wie nun kann man mit der Unverträglichkeit verschiedener Diskurs- oder Sprachwelten umgehen? Wie ist angesichts der globalen Rechtsfragmentierung noch die Einheit der Rechtsordnung zu denken?
In der Beantwortung dieser Fragen nehmen die neuen Theorieansätze in ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Kontextualisierung unterschiedliche Perspektiven ein. Diese Perspektivenvielfalt kommt in der Kapitelgliederung des Buches zum Ausdruck. Die Beiträge sind in fünf Bereiche aufgeteilt – (1) Ausdifferenzierung von Recht und Politik; (2) Rechtsverständnisse; (3) Politik des Rechts; (4) Fragmentierung des Rechts; (5) Transnationaler Rechtspluralismus. Alle fünf Betrachtungsdimensionen überschneiden sich, und die vorgestellten Großtheorien |6|haben ihrem Anspruch nach zu allen fünf Themenkomplexen etwas zu sagen. Dennoch bietet sich eine solche – kontingente – Systematisierung an, um die Zentralaussage der Theorien deutlich hervortreten zu lassen. Denn der Heterogenität der gesellschaftlichen Grundannahmen korrespondiert eine unterschiedliche Schwerpunktsetzung der jeweiligen Modellierung.
So sind die neo-kantischen Rechtstheorien von Jürgen Habermas und Ingeborg Maus (siehe hierzu den Beitrag von Peter Niesen und Oliver Eberl) wie auch das dekonstruktivistische Denken Jacques Derridas (Thomas M. Seibert), systemtheoretische Arbeiten in der Tradition Niklas Luhmanns und Gunther Teubners (Kolja Möller) und Theorien des Post-Juridischen (Hannah Franzki) von dem Bemühen geleitet, die Prozesse der Ausdifferenzierung von Recht und Politik, d.h. Trennung und Verknüpfung eigendynamischer Gesellschaftsbereiche, zu beschreiben. Die Einheit der Gesellschaft im Staat kann heute nicht mehr vorausgesetzt werden. Auch über die Definition des »Feindes« kann Homogenität in einer pluralistischen Gesellschaft nicht geschaffen werden. Selbst der Entwurf Rudolf Smends, wonach die Einheit des Rechts dadurch zustande komme, dass dieses ein »Wert- oder Güter-, ein Kultursystem« bilde[13], wird zunehmend unplausibel. Diese Utopie scheitert an der Unübersichtlichkeit und Vielfalt der Lebensverhältnisse. Die Gesellschaft bildet zwar einen einheitlichen Zusammenhang von Kommunikation, aber es gibt kein Ganzes, von dem aus man diese Einheit kontrollieren könnte. An die Stelle der Einheit tritt die Frage nach den Bedingungen von Vielfalt und danach, wie eine scheinbar holistische Totalität von einer radikaldemokratischen Allgemeinheit abgelöst werden kann. Im Recht tauchen diese Fragestellungen an zahlreichen Stellen auf, sie betreffen den Begriff des Rechts selbst, aber bspw. auch den Methodenstreit im deutschen Verfassungsrecht[14].
Die im Abschnitt Rechtsverständnisse vorgestellten Ansätze verbindet, dass sie die Rechtsform selbst anders als in klassisch systemischen Beschreibungen verstehen: Für postanalytische Ansätze (Jochen Bung und Markus Abraham), neuen Rechtsempirismus (Friedemann Vogel und Ralph Christensen), nachpositivistische (Nikolaus Forgó und Alexander Somek) sowie ästhetische Theorien des Rechts (Jörn Reinhardt und Eva Schürmann) ist die Rechtsform kein einheitliches System im Stufenbau nationaler Rechtsregeln und -prinzipien, sondern eine medial ausdifferenzierte soziale Form. So verstanden stellen sich die Fragen der Rechtskonstitution anders, ja radikaler als in klassischen Zugängen.
Die im Anschluss an diese Konzeptionen im Kapitel Politik des Rechts vorgestellten Autorinnen und Autoren bringen die blinden Flecke eines scheinbar unpolitischen Rechts zum Ausdruck, indem sie u.a. die gesellschaftlichen Kämpfe um Anerkennung[15] ins Zentrum ihrer Thematisierung stellen. Sie insistieren |7|darauf, dass das Recht kein neutrales Vermittlungsmedium ist, sondern immer auch eine »Technologie der Macht«, welche die gesellschaftlichen