K. Stapelfeldt/S.
|122|Eugen EhrlichEhrlich, Eugen (1862–1922)
(1862–1922)
Geb. am 14.9.1862 in Czernowitz (Bukowina). Rechtsstudium in Wien, 1886 Promotion zum Doktor der Rechte. Advokaturskandidat in Wien später Advokat in Schwechat. 1894 Privatdozent in Wien, 1896 außerordentlicher, 1900 ordentlicher Professor für römisches Recht in Czernowitz, dort 1906/07 Rektor. 1909 Einrichtung eines „Seminars für lebendes Recht“ mit kärglicher Unterstützung des österreichischen Unterrichtsministers (1911 wird ein einmaliger Zuschuß von 400 Kronen bewilligt). Während des ersten Weltkrieges Aufenthalt in Wien, dann Rückkehr nach Czernowitz. Nach dem Anschluß der Bukowina an Rumänien wurde E. wegen seiner politischen Einstellung – er hatte sich für eine Erhaltung der Donaumonarchie eingesetzt – in Czernowitz stark angefeindet; er zog sich deshalb 1921 nach Bukarest zurück (ein Versuch, sich in Bern für Rechtssoziologie zu habilitieren, war 1919 gescheitert). E. ist am 2.5.1922 in Wien gestorben.
Am bekanntesten ist E. durch seine „Grundlegung der Soziologie des Rechts“ geworden, die neben den Arbeiten von Emile Durkheim und Max Weber die Rechtssoziologie als Wissenschaft begründet hat. Für E. ist die empirische Rechtssoziologie „die wissenschaftliche Lehre vom Rechte“ überhaupt; er folgt damit dem Wissenschaftsbegriff des naturwissenschaftlichen Positivismus. Der Rechtswissenschaft stellt er die „Jurisprudenz“ gegenüber, die Kunstlehren für die verschiedenen praktischen Juristentätigkeiten (Richter, Anwalt usw.) gibt, in ihr findet auch die herkömmlich allein als Rechtswissenschaft angesehene Rechtsdogmatik (Kunstlehre für den Richter) ihren Platz.
Den Inhalt seiner Grundlegung der Rechtssoziologie faßt E. in den Satz zusammen, „der Schwerpunkt der Rechtsentwicklung liege auch in unserer Zeit, wie zu allen Zeiten, weder in der Gesetzgebung, noch in der Jurisprudenz oder in der Rechtsprechung, sondern in der Gesellschaft selbst“. Die grundlegende Form des Rechts sei bis in |123|die Gegenwart „die innre Ordnung der Verbände“, die ihrerseits auf den „Tatsachen des Rechts“ (E. nennt: Übung, Herrschaft, Besitz und Vertrag) beruht. „Recht“ ist also für E. nicht erst der allgemeinverbindlich formulierte Rechtssatz, sondern schon die aus der Verbandsorganisation folgende „Regel des Handelns“. Das wirft die Frage auf, wie sich die Rechtsregel von den sonstigen gesellschaftlichen Regeln des Handelns (Sittlichkeit, Anstand usw.) unterscheidet. E. lehnt hier das Merkmal der Erzwingbarkeit des Rechts (im Gegensatz etwa zu Max Weber und der modernen Rechtssoziologie) ab und sieht den entscheidenden Aspekt in der allgemeinen Anerkennung der rechtlichen als besonders wichtiger Norm, die „wenigstens nach der Empfindung der Gruppe, von der sie ausgeht, eine Sache von großer Wichtigkeit, von grundlegender Bedeutung“ regelt.
Neben diesen Organisationsnormen des „gesellschaftlichen Rechts“ steht als zweiter Normenbereich das Juristenrecht. Dieses bildet sich zunächst in der Form von „Entscheidungsnormen“, d.h. Regeln über die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten. Diese Regeln findet der Richter zwar insofern schöpferisch, als er sich nicht an bestehende Rechtssätze halten kann, aber er legt dabei die Rechtstatsachen der inneren Verbandsordnung zugrunde. Später werden aus den gleichmäßig angewendeten Entscheidungsnormen allgemeine „Rechtssätze“ formuliert: zunächst durch Richter, juristische Schriftsteller oder Kautelarjuristen, dann durch den Gesetzgeber.
Originär staatliches Recht (das E. von der gesetzgeberischen Fixierung des Juristenrechts durch den Staat unterscheidet) endlich „ist ein Recht das nur durch den Staat entstanden ist und ohne Staat nicht entstehen könnte“. E. rechnet hierzu die staatlichen Organisationsnormen und die „Normen zweiter Ordnung“, welche „gesellschaftliches oder staatliches Recht … schützen und schirmen“ (also z.B. Straf-, Prozeß-, Verwaltungsrecht). Die Entstehung solcher Rechtsnormen setzt also ein bereits relativ stark entwickeltes Staatswesen voraus, jedoch nicht notwendig eine Gesetzgebung, da sich materiell staatliches Recht z.B. auch in der Rechtsprechung ausbilden kann.
In einer vollentwickelten Rechtsordnung stehen nach E. alle drei Normenbereiche in einem Verhältnis gegenseitiger Ergänzung und Durchdringung. Meist werden die starren Normen des staatlichen und des Juristenrechts durch neu sich entwickelnde gesellschaftliche Rechtseinrichtungen überspielt und zu „totem“ Recht. Zuweilen wirkt aber auch zur Beeinflussung des gesellschaftlichen Lebens geschaffenes staatliches Recht in die Gesellschaft hinein und wird dort zur Regel des |124|Handelns. Alle Regeln, nach denen „sich das Volk tatsächlich in Handel und Wandel richtet“, sind „lebendes Recht“, das soziologisch allein als Recht angesehen werden kann.
Als Aufgabe einer Rechtssoziologie bezeichnet E. vor allem die Erforschung des lebenden Rechts, im einzelnen die Erforschung der Rechtstatsachen, der Rechtssätze „als Tatsache“ (Ursprung und Wirkung) und der „gesellschaftlichen Kräfte, die zur Rechtsbildung führen“. Seine ganze „Grundlegung“ ist also, was man nicht vergessen darf, nicht selbst eine empirische Rechtssoziologie, sondern zum Teil Metatheorie empirisch rechtssoziologischer Forschung, zum Teil Bildung von Hypothesen über Entwicklungsgesetze des Rechts (auf Grund geschichtlichen Materials: diesen Wesenszug teilt sie mit der Rechtssoziologie Max Webers). Empirische Untersuchungen hat E. zwar auch angestellt, jedoch nur mit sehr bescheidenem Erfolg; sein Versuch, das lebende Recht der neun bukowinischen Volksstämme zu erheben, scheiterte an mangelnden Geldmitteln und wohl auch an der ganz unzulänglichen Erhebungstechnik. Weitergewirkt hat daher vor allem die soziologische Theorie E.s (in Amerika vor allem durch Roscoe Pound), deren Gleichsetzung von Recht und gesellschaftlicher Wirklichkeit allerdings von der gegenwärtigen Rechtssoziologie als zu weitgehend empfunden wird.
E. hat mit seinem Vortrag über „Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft“ auch die Freirechtsbewegung eingeleitet. Er bekämpft hier die Meinung, daß alles Recht in den staatlichen Gesetzen enthalten sei,