54(a) Arglosigkeit: »Arglos ist der Getötete dann, wenn er nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten erheblichen, gar mit einem lebensbedrohlichen Angriff rechnet.«[111] Im Ausgangspunkt kommt es hiernach darauf an, dass das Tatopfer in dem Moment, in dem der Täter unmittelbar i.S.v. § 22 StGB zur Tötung ansetzt, keinen Angriff auf seine körperliche Integrität befürchtet. Im Gegenzug entfällt die Arglosigkeit in der Regel, wenn das Tatopfer vor Eintritt ins Versuchsstadium erkennt, dass es dem Täter auf die Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit ankommt.[112] Insbesondere ist die Arglosigkeit auch dann zu verneinen, wenn es zwischen Täter und Opfer zu einer tätlichen Auseinandersetzung kommt und sich der Täter in deren Verlauf dazu entschließt, das Opfer zu töten, da dieses dann bereits infolge der noch andauernden Auseinandersetzung nicht mehr davon ausgeht, der Täter werde sich ihm gegenüber nicht feindselig verhalten.[113]
55Dass der Täter dem Opfer offen feindselig gegenübertritt, dieses bei Beginn der Tötungshandlung also nicht arglos ist, steht der Verwirklichung des Heimtückemerkmals ausnahmsweise dann nicht entgegen, »wenn der Täter das Opfer mit Tötungsvorsatz planmäßig in einen Hinterhalt lockt, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, und die entsprechenden Vorkehrungen und Maßnahmen bei Ausführung der Tat noch fortwirken.«[114] So liegt es insbesondere dann, wenn der Täter das Opfer unter einem Vorwand an einen abgelegenen Ort verbringt und dieses dort (wie von Anfang an geplant) offen mit seinem Tötungsvorhaben konfrontiert. Dass auch in dieser Konstellation ein Heimtückemord anzunehmen sein kann, sieht der BGH darin begründet, dass andernfalls »gerade besonders schwere Fälle der Tötung wie das wohldurchdachte Locken in einen Hinterhalt oder das raffinierte Fallenstellen nicht als Mord qualifiziert werden [könnten]. Darauf, daß das Opfer unmittelbar vor der Tötungshandlung nicht mehr arglos war, und ihm noch gewisse Verteidigungsmöglichkeiten zur Verfügung standen, [möge] es ankommen, wenn der Täter die Tötung gerade erst vor ihrer Ausführung ins Auge gefaßt hat. Handelt es sich aber um eine von langer Hand geplante und vorbereitete Tat, so [könne] das Heimtückische bereits und gerade in den Vorkehrungen und |27|Maßnahmen liegen, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, falls sie bei der Ausführung der Tat noch fortwirken.«[115]
56Dass das Tatopfer davon ausgeht, der Täter sei ihm gegenüber feindselig eingestellt, lässt die Arglosigkeit ebenso wenig entfallen, wie der Umstand, dass es zwischen Täter und Opfer zu einem vorangegangenen Zeitpunkt zu verbalen und/oder tätlichen Auseinandersetzungen gekommen ist.[116] Entscheidend ist allein, ob das Opfer in der konkreten Tatsituation erkannte, dass vom Täter eine unmittelbare Gefahr für sein Leben oder seine körperliche Unversehrtheit ausging. Demgegenüber fehlt es an der Arglosigkeit, wenn das Tatopfer den Täter über einen längeren Zeitraum erpresst hat und daher mit dessen Gegenwehr rechnen musste.[117]
57Personen, die konstitutionell nicht in der Lage sind, Misstrauen gegenüber anderen Personen zu entwickeln, kommen als Opfer eines Heimtückemordes nicht in Betracht. Insbesondere Schwerkranke und Kleinstkinder im Alter bis ca. drei Jahren hegen in der Regel keinen Argwohn gegenüber ihren Mitmenschen und können daher nicht arglos i.S.d. soeben skizzierten Anforderungen sein.[118] Allerdings gehen Rechtsprechung und Literatur überwiegend davon aus, dass »eine Ausnahme der prinzipiellen Ausklammerung kleiner Kinder [und Schwerkranker] aus dem Anwendungsbereich des Mordmerkmals der Heimtücke dann zu machen ist, wenn der Täter schutzbereite Dritte ausschaltet, um dann die Tötung des nicht mehr behüteten [Opfers] ungehindert begehen zu können.«[119] »Schutzbereiter Dritter ist [hierbei] jede Person, die den Schutz eines [Kleinstkindes oder] Besinnungslosen vor Leib- und Lebensgefahren dauernd oder vorübergehend übernommen hat und diesen im Augenblick der Tat entweder tatsächlich ausübt oder dies deshalb nicht tut, weil sie dem Täter vertraut […]. Sie muss auf Grund der Umstände des Einzelfalls allerdings den Schutz wirksam erbringen können, wofür eine gewisse räumliche Nähe und eine überschaubare Anzahl der ihrem Schutz anvertrauten Menschen erforderlich sind.«[120] Nach diesen Maßgaben kommt ein Heimtückemord etwa dadurch in Betracht, dass der Täter die Arglosigkeit der Eltern eines Kleinstkindes bzw. des für die Betreuung eines Intensivpatienten zuständigen Pflegepersonals zur Tötung des Kindes bzw. des Patienten ausnutzt|28|. Ausnahmsweise will der BGH im Fall der Tötung eines Kleinstkindes darüber hinaus eine heimtückische Begehungsweise auch dann bejahen, wenn der Täter die instinktiven Abwehrmechanismen des Kindes gezielt umgeht, also beispielsweise ein tödlich wirkendes Mittel in die Nahrung des Kindes mischt, weil dieses andernfalls das Mittel seines Geschmacks wegen nicht zu sich nehmen würde.[121]
58Schlafende sind in der Regel arglos, da sie ihre Arglosigkeit mit in den Schlaf nehmen.[122] Demgegenüber verneint der BGH die Arglosigkeit eines Bewusstlosen, denn diesen überkomme »sein Zustand, ohne daß er es hindern könnte; er [könne] nicht in der Erwartung, ihm werde niemand etwas anhaben, getäuscht werden.«[123] Im Ergebnis vermag die unterschiedliche rechtliche Behandlung der Tötung von Schlafenden und Bewusstlosen jedoch nicht zu überzeugen. Vielmehr haben beide Konstellationen gemein, dass sich die Tat gegen eine Person richtet, die (soweit es sich nicht zugleich um einen konstitutionell Arglosen i.S.v. Rn. 57 handelt) grundsätzlich Misstrauen gegenüber dem Verhalten anderer Personen entwickeln kann, hierzu aber infolge situativer Umstände ausnahmsweise nicht in der Lage ist. Da der Täter in beiden Fällen die (nur) in der konkreten Situation bestehende besondere Schutzlosigkeit des Opfers ausnutzt, erscheint es sachgerecht, sowohl Schlafende als auch Bewusstlose als arglos anzusehen und nicht zwischen dem freiwilligen Einschlafen auf der einen und dem unfreiwlligen Eintritt der Bewusstlosigkeit auf der anderen Seite zu differenzieren.[124]
59(b) Wehrlosigkeit:Wehrlos ist, wer gerade aufgrund seiner Arglosigkeit in seiner natürlichen Abwehrbereitschaft und -fähigkeit eingeschränkt und hierdurch außer Stande ist sich zu verteidigen, bzw. in seiner Verteidigung zumindest erheblich limitiert ist.[125] Erforderlich ist hiernach das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen Arg- und Wehrlosigkeit, wonach das Opfer gerade infolge der fehlenden Antizipierung eines auf seine körperliche Unversehrtheit gerichteten Angriffs nicht in der Lage ist, sich effektiv gegen den Täter zu verteidigen.[126] Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Voraussetzungen der Wehrlosigkeit ist wiederum der Beginn des Tötungsversuchs, soweit nicht der in Rn. 55 skizzierte Ausnahmefall vorliegt. Fallkonstellationen, in denen ein Opfer zwar arg-, aber nicht wehrlos ist, kennzeichnen sich typischerweise |29|dadurch, dass das Opfer im Zeitpunkt des unmittelbaren Ansetzens zwar nicht mit einem Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit rechnet, ihm aber gleichwohl noch die Möglichkeit offen steht, zu fliehen, Hilfe herbeizurufen oder sich wehrhaft zu verteidigen.[127]
60(c) Bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit: Der Täter muss die Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zur Tötung ausgenutzt haben, wovon dann auszugehen ist, wenn er sein Vorgehen danach berechnend ausrichtet.[128] Besonderes Augenmerk bedarf diese Strafbarkeitsvoraussetzung in Konstellationen, in denen das Tötungsgeschehen auf eine spontane Gefühlsregung des Täters zurückzuführen ist. Denn wenn »ein Täter bei einem vorsätzlichen Angriff auf einen Arg- und Wehrlosen in plötzlich aufsteigender Verbitterung und Wut [handelt], dann liegt die Möglichkeit, daß er die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tat nicht erkannt hat, oft so nahe, daß es in aller Regel besonderer Darlegungen über die Umstände bedarf, aus denen sich ergibt, daß der Täter trotz seiner Erregung die für die Heimtücke