180
Die Kommission hat am 24.7.2018 in vier verschiedenen Verfahren die Elektronikkonzerne Asus, Denon & Marantz, Philips und Pioneer mit Gesamtbußgeldern von EUR 111 Mio. für illegale Preisbindung gegenüber ihren Händlern in verschiedenen EU Mitgliedstaaten belegt. Die Unternehmen nahmen unabhängig voneinander vertikale Preisbeschränkungen in Form von Fest- oder Mindestpreisbindungen vor, indem sie die Möglichkeiten ihrer Online-Einzelhändler beschränkten, die Einzelhandelspreise für gängige Elektronikprodukte wie Küchengeräte, Notebooks und Hi-Fi-Geräte eigenständig festzulegen. Die vier Hersteller schalteten sich besonders bei Online-Einzelhändlern ein, die ihre Produkte zu niedrigen Preisen anboten. Wenn sich diese Einzelhändler nicht an die von den Herstellern verlangten Preise hielten, sahen sie sich mit Drohungen oder Sanktionen konfrontiert, wie etwa einem Belieferungsstopp. Viele Online-Einzelhändler, auch die größten, setzen Preisalgorithmen ein, durch die ihre Einzelhandelspreise automatisch an die Preise der Wettbewerber angepasst werden. Daher wirkten sich die Beschränkungen für die Online-Einzelhändler des Niedrigpreissegments auf die gesamten Online-Preise aus. Die Hersteller konnten durch hochentwickelte Überwachungssoftware die Wiederverkaufspreisbildung im Vertriebsnetz verfolgen und im Falle von Preissenkungen rasch eingreifen. Alle vier Unternehmen arbeiteten mit der Kommission zusammen. Ihre Geldbußen wurden von der Kommission entsprechend dem Umfang dieser Zusammenarbeit um 40 % (für Asus, Denon & Marantz und Philips) bzw. 50 % (für Pioneer) ermäßigt. Asus erhielt danach eine Geldbuße von EUR 63,5 Mio., Denon & Maranz von EUR 7,7 Mio., Philips von EUR 29,8 Mio., und Pioneer von EUR 10,2 Mio.
181
Die Entscheidungen sind mit Beispielen für belastende interne und externe Unternehmenskorrespondenz gespickt, die die Preisbindungsstrategien der Hersteller dokumentieren.
1.3 Weiterverkaufsverbote
182
Ein Per-se-Verbot an den Abnehmer einer vertikalen Vereinbarung, Vertragsprodukte außerhalb des zugewiesenen Vertragsgebietes oder einer zugewiesenen Kundengruppe zu verkaufen, ist ebenfalls eine kartellrechtswidrige Kernbeschränkung. Wie bei Preisbindungen ist das Risiko von Bußgeldern bei der Vereinbarung kartellrechtswidriger Gebiets- oder Kundenbeschränkungen hoch.206 Dies gilt insbesondere, wenn der grenzüberschreitende Handel durch ein Weiterverkaufsverbot betroffen ist, da die Schaffung eines gemeinsamen Binnenmarktes zu den erklärten Zielen der Kommission gehört.207
Die Kommission verhängte bereits im Oktober 2002 gegen den japanischen Videospielhersteller Nintendo und sieben seiner offiziellen europäischen Vertriebshändler Geldbußen in Höhe von insgesamt EUR 167,8 Mio. wegen der Einschränkung des Parallelhandels.208 Unter der Anführerschaft von Nintendo hatten die Unternehmen die Absprache getroffen, die Ausfuhr von Produkten aus Niedrigpreis- in Hochpreisländer zu verhindern und so die Preisunterschiede innerhalb des EWR künstlich hochzuhalten. Zwischen den Mitgliedstaaten unterschieden sich die Preise für bestimmte Spielekonsolen zeitweise um bis zu 65 %. Im Rahmen der Absprache verhinderten die Vertriebshändler Grauexporte aus ihren jeweiligen Gebieten, d.h. Exporte über inoffizielle Vertriebswege. Einzelhändler, die Parallelexporte durchgehen ließen, wurden durch Einschränkung der Lieferungen oder Lieferboykott „bestraft“. Das Bußgeld ist das bisher höchste, das die Kommission je für eine vertikale Zuwiderhandlung verhängt hat.209
183
Ein weiteres praxisrelevantes Beispiel liefert die bereits zuvor angesprochene Bußgeldentscheidung der Kommission gegen den Elektronikkonzern Pioneer.210 Das Unternehmen hatte nicht nur die Preise für seine Produkte Händlern gegenüber gebunden, sondern auch Parallelhandel kartellrechtswidrig beschränkt. In ihrer Bußgeldentscheidung hat die Kommission zahlreiche Auszüge aus interner Originalkorrespondenz im Unternehmen veröffentlicht, die die Strategie des Unternehmens genau beschreiben. Diese Korrespondenz ist nicht nur eine erneute Ermahnung an Unternehmen, Weiterverkaufsverbote und Parallelhandelsverbote zu unterlassen, sondern belegt auch, wie fatal eine unvorsichtige interne Korrespondenz über Kartellrechtsverstöße ist.
So schreibt unter anderem ein Mitarbeiter von Pioneer France an die Obergesellschaft Pioneer Europa und die Schwestergesellschaft Pioneer Scandinavia wegen Produktlieferungen nach Frankreich (in freier Übersetzung der englischen Originalentscheidung): „Dies ist das dritte Mal, dass wir Produkte in der Rue du Commerce gefunden haben, die von [Händler R] stammen und jedes Mal stelle ich mir vor, wie viele Male dieser [Händler R] tatsächlich hier verkauft, ich nehme nicht an, dass es sich nur um 1 bis zwei Teile handelt. Nun reicht es. Ich muss wissen, was die Situation ist und natürlich welche starken Maßnahmen Pioneer Europe gegen [Händler R] einleiten wird. [...]“ Ein Mitarbeiter von Pioneer Europa schreibt daraufhin an einen Mitarbeiter von Pioneer Skandinavien: „Lieber [...], Leiten Sie sofort die erforderlichen Maßnahmen ein“. Der Mitarbeiter von Pioneer Skandinavien entschuldigt sich daraufhin beim Mitarbeiter seiner Muttergesellschaft Pioneer Europa wie folgt: „Lieber [...], ich bedauere die Umstände, die dies auf dem französischen Markt verursacht haben. Wir haben keine Intention, lokal auf diese Weise hinzuzugewinnen [...] Wir haben inzwischen die Zusage des Händlers, dies einzuhalten und er hat dies akzeptiert. Das Produkt wird nur noch durch sein eigenes Shop Netzwerk vertrieben [...] Bitte informieren Sie mich sofort, sollte es dennoch irgendwo auftauchen.“
184
Art. 4 lit. b Ziff. i der Vertikal-GVO sieht praxisrelevante Ausnahmen vom Totalverbot der Gebiets- oder Kundenkreisbeschränkung für den sog. Alleinvertrieb oder exklusiven Vertrieb211 sowie für selektive Vertriebssysteme212 vor. Diesen Ausnahmen ist gemein, dass sie wörtlich und damit eng zu verstehen sind, eine Interpretation ihrer Grenzen also stets mit hohen Risiken behaftet sind. Des Weiteren kommt das Eingreifen der Ausnahmen nur dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen für ein exklusives bzw. selektives Vertriebssystem im Sinne der Vertikal-GVO überhaupt vorliegen.
185
In einem Alleinvertriebssystem darf der Lieferant einem Händler bzw. Abnehmer nach Art. 4 lit. b Vertikal-GVO den aktiven Verkauf, d.h. die aktive Ansprache einzelner Kunden,213 in dem Gebiet bzw. an die Kundengruppe untersagen, die sich der Lieferant selbst exklusiv vorbehalten oder die er exklusiv einem anderen Händler zugewiesen hat (sog. Exklusivgebiete oder Exklusivkundengruppen). Dadurch dürfen Kunden des Händlers jedoch nicht im Weiterverkauf beschränkt werden. Stets frei bleiben muss zudem der sog. passive Vertrieb, d.h. die Reaktion auf unaufgeforderte Kundenbestellungen, zu dem auch der Internetvertrieb mittels einer Webseite zählt. In der Praxis bedeutet dies, dass ein absoluter Gebiets- oder Kundenschutz im Alleinvertriebssystem nicht möglich ist. Versuche, diesen durchzusetzen, sind mit hohen Risiken verbunden.
186
Auch in Vertriebsverträgen neueren Datums finden sich in der Umsetzung dieser Vorgaben grobe Fehler, weil die Voraussetzungen der Vertikal-GVO missverstanden oder ignoriert werden. So wird z.B. ein aktives Weiterverkaufsverbot ausgesprochen, obgleich es innerhalb der EU überhaupt keine oder keine durchgängig exklusiv zugewiesenen Kundengruppen oder Gebiete gibt; oder es wird ein Weiterverkaufsverbot vereinbart, ohne dass in erforderlicher Weise zwischen dem aktiven, d.h. vom Vertreiber selbst veranlassten Verkauf und dem passiven Vertrieb, d.h. der Reaktion auf unveranlasste Kundenanfragen unterschieden wird. Schließlich wird der Händler nicht selten unzulässig verpflichtet, ein für ihn gültiges aktives Weiterverkaufsverbot auch an seine Abnehmer weiterzugeben.214
187
Im selektiven Vertrieb muss es dem Händler stets freistehen, innerhalb des Gebiets, für das der selektive Vertrieb gilt, alle Endkunden, ungeachtet ihres Wohnsitzes, zu beliefern. Sowohl die aktive als auch die passive Weiterverkaufsbeschränkung