Ich hörte einen Moment auf zu erzählen, weil die Erinnerung so stark wirkte. Das war ein unglaublicher Augenblick gewesen. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie mir die Verbindung gelungen war, doch das war nicht wichtig. Ich war nicht mehr allein. Olivia war zwar kein Ersatz für Großmutter, aber sie teilte doch immerhin meine Freude am Fliegen.
„Von da an flogen wir bei jeder Gelegenheit gemeinsam, aber ich achtete, so klein ich war, darauf, dass meine Eltern es nicht mitbekamen. Ich hatte Angst, sie würden es uns verbieten. Meine Schwester schien das zu merken, sie war immer ganz leise. Wir schwebten eigentlich nur, unser Zimmer war zu klein, um wirklich zu fliegen. Es ging bestimmt ein halbes Jahr gut, dann wollte sie schneller fliegen und Kunststückchen mit mir machen. Sie quengelte so lange herum, bis ich mit ihr Purzelbäume in der Luft schlug. Das fand sie großartig. Wir kullerten und kullerten und sie fing plötzlich laut zu jauchzen an. Meine Mutter stürzte ins Zimmer und sah uns in der Luft. Sie versteinerte auf der Stelle. Während ich mit Olivia landete, erschrocken von ihrer Reaktion, starrte sie uns nur an. Sie sagte keinen Ton und ging hinaus. Am nächsten Tag räumten meine Eltern ihr Schlafzimmer. Dort wurde ich einquartiert. Meine Eltern schliefen von da an im Wohnzimmer und Olivia blieb in unserem Kinderzimmer. Gemeinsame Zeit verbrachten wir nur noch unter Aufsicht meiner Mutter. Wir litten alle. Ich, weil ich allein spielen musste, Olivia, weil sie nicht mehr fliegen konnte, meine Eltern, weil sie nicht wussten, wie sie mir das Fliegen abgewöhnen könnten. Denn das war es, was sie wollten. Ohne mich zu zwingen. Ein Jahr, bevor ich in die Schule kam, fingen sie ein intensives Training mit mir an. Sie nahmen mich jeden Tag ins Gebet und trichterten mir ein, dass ich niemals, unter keinen Umständen, jemandem davon erzählen oder es gar zeigen durfte. Das hatte ich ja schon lange vorher begriffen, doch sie waren so ängstlich, dass sie mir einfach nicht trauten. Es war die reinste Gehirnwäsche. Nur die Erinnerung an meine Großmutter bewahrte mich davor, mir schlecht vorzukommen.
Danach ließen sie mich wieder mit Olivia allein spielen. Damals begriff ich nicht, dass es ein Test war. Ich bestand ihn, doch es war unglaublich hart. Abgesehen von meinem eigenen Verlangen, mich wieder mit ihr zu verbinden und zu fliegen, drängte sie mich, sobald wir allein waren. Ich ignorierte ihre Fragen, weil ich nicht wusste, was ich antworten sollte. Es war alles so ungerecht. Ich versuchte, sie abzulenken. Es half nicht. Sie bestand darauf, bis ich sie irgendwann anschrie, ich hätte es verlernt. Sie glaubte mir nicht und war von da an böse mit mir. Sie wandte sich von mir ab. Mit den Jahren vergaß sie, dass ich fliegen konnte. Doch die Distanz ist bis heute geblieben.“ Ich hörte auf zu sprechen, hatte einen Kloß im Hals. Meine kleine Schwester war ein schwieriges Thema für mich. Ich hing an ihr und konnte sie doch nicht erreichen.
Julien ging still neben mir her. Dann legte er seinen Arm um meine Schultern und fragte: „Und wie ging es weiter?“ In seiner Stimme lag Mitgefühl und gleichzeitig die Aufforderung, nicht in meinem Schmerz zu versinken. Vielleicht rief ich mich auch nur selbst dazu auf.
„Kurz bevor ich in die Schule kam, zogen wir in das Haus, in dem meine Eltern jetzt noch wohnen. Sie hatten endlich wieder ein Schlafzimmer. Mein neues Zimmer war ein ganzes Stück größer als mein altes, dennoch reichte es mir nicht mehr, immer nur dort herumzufliegen. Ich kam mir vor wie eines der wilden Tiere im Zoo. Immer nur im Kreis herum. In meiner Verzweiflung hatte ich die Idee, nachts abzuhauen, um geradeaus fliegen zu können. Unglücklicherweise lag mein Zimmer zwischen dem Wohnzimmer und dem Schlafzimmer und ging auf die Straße hinaus, wo abends die Laternen leuchteten. Doch ich fand einen Weg über den Dachboden. Dort gab es ein kleines Dachfenster für den Schornsteinfeger. Man konnte den Fensterflügel komplett nach außen klappen und es war so hoch oben, dass man auf die Leiter steigen musste, um es zu öffnen. Das wurde nie kontrolliert. Genau das Richtige für mich. Ich blieb also jeden Abend wach, bis es ganz dunkel war, und schwebte dann leise und schnell zum Dach hinaus. Meine Eltern haben es nie mitbekommen. Sie saßen abends vor dem Fernseher und wenn ich zurückkam, schliefen sie schon. Zum Glück hatten sie nicht diese dumme Angewohnheit, nachts nochmal ihre schlafenden Kinder zu betrachten. Das machen sowieso nur Eltern im Film, glaube ich. Ich habe das bis heute beibehalten, nachts auszufliegen.“
„Und wie ging das mit der Schule?“, unterbrach mich Julien, „warst du nicht müde am Tag?“
„Ein paar Stunden Schlaf hatte ich ja noch bis zum Morgen. Und außerdem verbrauche ich im Schwebezustand nicht viel Energie“, antwortete ich. „Es ist sehr praktisch, ich werde nicht müde, habe keinen Hunger oder Durst, meine Sinne funktionieren besser und ich bin ziemlich stark und schnell.“
„Also doch Superwoman“, neckte er mich.
„Nein, da hab ich echt keine Ambitionen.“ Ich schüttelte mich. Das gestern war zwar aufregend gewesen, aber ob ich das wirklich jeden Tag brauchte? Das Verbrecherjagen überließ ich lieber Julien und seinen Kriminalkollegen. Detektiv spielen ginge da schon eher in meine Richtung. Hauptsächlich in eigener Sache. Was mich wieder zu den ominösen Aufforderungen von Frau Schmidt brachte und meiner Hoffnung, bei meiner Schilderung etwas zu entdecken. Ich war beim Dachboden stehengeblieben.
„Der Dachboden wurde mein Lieblingsort“, erzählte ich weiter. „Dort standen lauter Sachen, die nicht in die Wohnung passten. ‚So wie ich‘, dachte ich damals. Ich verkleidete mich oft und spielte Buchhandlung mit den ganzen alten Büchern. Es gab einen Karton, in dem lagen ein paar Bücher, die mich besonders faszinierten. Eines hatte geheimnisvolle Ornamente und war in einer anderen Sprache geschrieben. Dann gab es noch mehrere handgeschriebene Bücher. Die Schrift konnte ich nicht lesen, vermutlich Sütterlin, ich konnte nur ganz wenige Buchstaben entziffern. Ich spielte immer, es seien die Tagebücher meiner Großmutter und dachte mir die Heldentaten aus, die sie aufgeschrieben hatte.“
„Hast du herausgefunden, wer sie verfasst hat?“, frage Julien.
„Nein, ich habe meine Eltern gefragt, aber die wussten es auch nicht. Sie mutmaßten, dass der Vorbesitzer des Hauses sie zurückgelassen hat. Irgendwann waren die Bücher weg. Ich habe sie gesucht, doch sie blieben verschwunden. Hab sie dann auch aus den Augen verloren. Ehrlich gesagt, erinnere ich mich erst jetzt wieder an sie.“
Ich wurde nachdenklich. Irgendetwas war komisch an der Geschichte. Warum waren die Bücher auf einmal weg gewesen? Damals hatte ich vermutet, dass meine Eltern dahintersteckten. Aber warum sollten sie Bücher beiseiteschaffen, die offensichtlich niemand vermisste und die ich nicht einmal lesen konnte?
Meine Nachfragen hatten nur das berühmte Schweigen hervorgerufen, das auch über Großmutter und meinem Fliegen lag. Sie hatten eine Technik entwickelt, nicht über Dinge zu reden, gegen die ich nicht ankam. Nicht als Kind und auch heute noch nicht. Vielleicht waren es diese Bücher, die ich finden musste.
Vielleicht hatte ich gar nicht so falsch gelegen, und es waren tatsächlich Aufzeichnungen von Großmutter.
Ich erinnerte mich dunkel an die Miene meines Vaters, als ich von dem Karton erzählt hatte. Besorgnis hatte darin gelegen. Das war für mich nichts Neues gewesen – wenn man meinem Vater einen Gesichtsausdruck zuschreiben konnte, dann war es Besorgnis. Deshalb hatte ich mir damals nichts weiter dabei gedacht. Doch jetzt nahm ich mir vor, diesen Karton noch einmal zu suchen, und zwar gründlich und sehr bald. Heute Nacht, genauer gesagt. Frau Schmidt hatte deutlich genug gemacht, dass ich keine Zeit verlieren durfte.
„Ich habe Frau Schmidt versprochen, noch einen Blick in ihren Laden zu werfen“, sagte ich.
„Wenn du mir alles erzählt hast, was ich wissen will, können wir gemeinsam hinfahren“, meinte Julien. „Ich wollte mich sowieso noch einmal dort umschauen, vielleicht fällt mir noch etwas auf.“
„Oder mir.“
„Oder dir. Aber jetzt erstmal zurück. Du hast mir noch nicht erzählt, wie es dir in der Schule ergangen ist.“
Ich zuckte