So nannte er mich, wenn er mich necken wollte. Heute jedoch klang sein Tonfall nicht neckend. Ich musterte ihn. Etwas Neues lag in seinem Blick. Anerkennung, sogar Respekt und ein Hauch Bewunderung. Wie hatte der denn seine Nacht verbracht? Gestern Abend hatte er mich noch angebrüllt. Das war ich zwar nicht gewohnt von ihm, aber ich konnte es mir immerhin erklären. Dieser Blick jetzt? Wir schwiegen beide. Dann setzten wir gleichzeitig zum Reden an.
„Du zuerst“, sagte er, „ich zuerst“, sagte ich. Wir prusteten los. Etwas von der Spannung baute sich ab, die zwischen uns in der Luft lag.
„Das war nur Show eben“, gab ich zu, „nach allem, was passiert ist, brauchte ich das gerade.“
Julien sah mich fragend an.
„Ich war schon bei Frau Schmidt, im Krankenhaus“, fuhr ich fort, „sie sah gar nicht gut aus. Sie hat Angst. Sie sagte, sie kennt die Organisation, die die Typen geschickt hat, irgendeine Kameradschaft, und sie sagte, die würden wiederkommen und sie umbringen.“
In diesem Moment erst, als ich es Julien gegenüber aussprach, wurde mir bewusst, was sie da gesagt hatte. Was es bedeutete. Ich hatte das vorher gar nicht richtig kapiert. War so beschäftigt gewesen damit, beleidigt zu sein – weil sie nicht zugab, dass sie meine Großmutter war, und weil sie mir nichts erklärte, außer, ich sei in Gefahr – dass ich die Tragweite ihrer Aussage überhaupt nicht begriffen hatte. Dafür traf sie mich jetzt mit ihrer ganzen Wucht. Es haute mich in meinem Stuhl nach hinten. Stumm starrte ich Julien an.
„Ich habe den Burschen in der Kartei gefunden“, sagte er, ohne auf mein Entsetzen einzugehen. „Hab den Namen gelesen und wusste es wieder. Bertram Kurz. Als ich noch in der Polizeischule war, wurden wir bei einer rechtsextremen Demo eingesetzt. Er war einer der Demonstranten, hat plötzlich eine Waffe gezogen und auf den Kollegen geschossen, der neben mir stand. Er ist erst seit kurzem raus aus dem Knast.“
Ich schluckte. „Wurde dein Kollege schlimm verletzt?“
„Er wurde gar nicht verletzt. Einer, der neben Kurz stand, sah, was er vorhatte und hat ihm den Arm nach oben geschlagen, gerade als er abdrückte. Kurz wurde dann sofort von uns überwältigt und festgenommen.“
„Warum habe ich davon nichts in den Nachrichten gehört? Ich kann mich gar nicht erinnern.“
„Naja, du warst noch ziemlich klein, als das passiert ist. Es war kurz nach der Wende. Niemand wollte negative Schlagzeilen zu dem Zeitpunkt. Die Demo hat immerhin in den neuen Bundesländern stattgefunden. Damals wollte noch keiner wissen, dass es dort Rechtsextremismus gibt. Alles musste demokratisch und weltoffen sein. Es gab eine kurze Nachricht im Radio, aber schon abends in der Tagesschau tauchte sie nicht mehr auf.“
So war das also. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, dass unsere Nachrichten uns mehr verschwiegen als berichteten. Aber wenn man es dann hörte … Und nun war dieser Kurz wahrscheinlich ein Gesandter der sogenannten Kameradschaft. Dann konnte man ja fast davon ausgehen, dass diese Kameradschaft rechtsextrem war. Ich hoffte, Frau Schmidt würde etwas gesprächiger sein, wenn Julien nachher eine offizielle Zeugenaussage aufnahm. Denn wie sollten wir sie sonst schützen?
„Kannst du Frau Schmidt nicht bewachen lassen?“, fragte ich. „Die könnten einfach in ihr Krankenzimmer spazieren und sie ermorden …“ Der Gedanke zerrte an meinen ohnehin überspannten Nerven.
„Jetzt beruhige dich mal“, antwortete Julien, „die Kerle wissen gar nicht, wo sie ist. Wenn die tatsächlich wiederkommen, dann kommen sie in den Laden. Im Augenblick können wir erst einmal die Streife verstärken, die sollen öfter fahren und den Laden beobachten und wir können versuchen, etwas über diese Kameradschaft herauszufinden.“ Er telefonierte direkt mit dem Kommissariat.
Er hatte recht, trotzdem blieb ich unruhig. Am liebsten wäre ich gleich wieder aufgebrochen, Julien zwang mich aber, etwas zu bestellen. Ich nahm das kleinste Frühstück, das sie hatten. Während wir aßen, merkte ich, dass ich doch Hunger hatte. Julien versuchte derweilen, mir Informationen über mich zu entlocken. Genau dieses Thema wollte ich jedoch nicht in der Öffentlichkeit mit ihm besprechen und so verabredeten wir einen Waldspaziergang nach dem Besuch bei Frau Schmidt. Als wir endlich in Juliens Wagen stiegen, klingelte sein Handy. Infos über die Kameradschaft.
„Eine extrem rechte Organisation, deren Mitglieder streng geheim operierten“, berichtete er, „die waren im zweiten Weltkrieg für Hitler aktiv und sind danach nach Spanien zu Franco gegangen. Ihr Spezialgebiet war die Verfolgung und Ermordung von Regimegegnern, auch über die Grenzen hinaus.“
„Und was machen sie jetzt?“, wollte ich wissen.
„Keiner weiß Genaues nicht“, sagte Julien. „In den letzten zwanzig Jahren sind keine Straftaten bekannt, die mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Es war bis jetzt noch nicht einmal klar, ob es die Kameradschaft überhaupt noch gibt.“
Erstaunlich. Heutzutage wurde doch alles überwacht, wie konnte da so eine Gruppe unbehelligt ihr Unwesen treiben? Würde mich nicht wundern, wenn Julien eine Menge Hinweise fände, jetzt, wo er wusste, wonach er suchen musste.
Wir hielten vor dem Krankenhaus. Ich war gespannt, was Frau Schmidt erzählen würde – wenn sie bereit war, etwas zu erzählen. Sie saß im Bett und wirkte gefasster als heute früh. Bereitwillig beantwortete sie alle Fragen, die Julien ihr stellte und schilderte dann, was gestern passiert war. Frau Schmidt wohnte direkt über dem Laden. Am späten Abend hatte sie unten Geräusche gehört. Sie war nachschauen gegangen und fand die Tür des Lagers aufgebrochen.
„Ich wollte mich gerade wieder nach oben schleichen, um die Polizei zu alarmieren, da hat mich einer der beiden Männer gesehen, hat mich fest am Arm gepackt und ins Lager gezogen. Er hat mir einen Kinnhaken verpasst. Ich bin gegen die Regale gefallen und dann zu Boden gegangen. Dort bin ich liegen geblieben und habe mich ohnmächtig gestellt. Ich wollte nicht noch weiter verprügelt werden. Ich hatte große Angst.“ Bei der Erinnerung schauderte sie kurz. „Ich habe versucht, durch die Wimpern zu sehen, was sie tun. Sie haben alles aus den Schränken und Regalen gerissen und auf den Boden geworfen, es sah so aus, als suchten sie etwas. Ich habe überlegt, was es wohl sein könnte und dann kam ich darauf, dass nur die Kameradschaft sie geschickt haben konnte, denn ich wüsste nicht, für wen es sonst etwas Interessantes bei mir gäbe. Anscheinend fanden sie nicht, wonach sie suchten. Der, der mich niedergeschlagen hatte, kam zu mir, packte mich vorn am Kragen und schüttelte mich, bis ich vor Schreck die Augen öffnete. Er schrie mich an, wo ich es versteckt hätte, und schlug mir ins Gesicht. Ich konnte nicht sprechen vor Angst. Er schüttelte mich weiter, bis plötzlich von draußen das Klappern von Ellis Skateboard zu hören war. Offenbar wussten die beiden Männer die Geräusche nicht einzuordnen und wurden nervös. Der, der mich gepackt hatte, zischte mich an: ‚Wir kommen wieder‘, und stieß mich zurück auf den Boden. Dann rannten sie hinaus. Kurz darauf erschien Elli.“
Also hatte mein Skateboard die Typen verjagt. Nicht schlecht. Im Hof vor Frau Schmidts Lager war Kopfsteinpflaster verlegt, vor ungefähr hundertfünfzig Jahren oder so. Es sah sehr romantisch aus, aber wenn ich mit dem Skateboard angebraust kam, tat es immer ordentliche Schläge. Oft genug hatte es mir das Board schon unter den Füßen weggehauen, weil das Pflaster wirklich buckelig war. Es hatte doch eben alles sein Gutes.
„Wissen Sie, was die Männer gesucht haben?“, erkundigte sich Julien.
Frau Schmidt zuckte die Achseln. Sie schüttelte nicht den Kopf, das registrierte