Überhaupt, warum war mir das nicht schon früher aufgefallen? Ich kannte sie jetzt schon so viele Jahre, da hätte es doch schon früher mal passieren müssen. Ich versuchte mich zu erinnern, wann wir uns das letzte Mal berührt hatten. Fand aber nichts. Gar nichts, keine einzige Berührung. Das war ja seltsam – sollten wir uns wirklich noch niemals die Hand gegeben haben, noch nie zufällig aneinander gestoßen sein? Durch die ganze Verbindungsgeschichte war ich mit allen Menschen sehr vorsichtig. Ich vermied körperlichen Kontakt, wo immer es sich machen ließ, um nicht in die Gefahr zu kommen, mich zu verraten. Einer der Gründe, weshalb ich mich bei Frau Schmidt so wohl fühlte, war, dass sie diese spezielle Unnahbarkeit zu achten schien. Bei ihr hatte ich nie das Gefühl, sie könnte meine Grenze überschreiten. Sollte das etwa gar nicht nur von mir ausgegangen sein? Sollte sie es selbst so gewollt haben?
„Es geht mir nicht gut“, unterbrach sie meine Grübelei und beantwortete damit meine gar nicht wirklich ausgesprochene Frage, „ich habe Angst.“ Ihr Tonfall war etwas milder als vorhin und sehr klar.
Das beunruhigte mich. So kannte ich sie, ich konnte mir also nicht einreden, sie würde das nur sagen, weil sie noch mitgenommen war von dem Überfall. Etwas begann mir die Kehle zuzuschnüren. „Wovor?“, krächzte ich.
„Sie werden wiederkommen“, sagte sie leise.
„Aber sie sind in U-Haft!“ Mir fiel ein, dass ich ihr noch gar nichts von unserer Verfolgungsjagd und der Verhaftung berichtet hatte. „Wir haben sie geschnappt gestern Nacht.“
„Nicht diese beiden – andere …“ Ihre Stimme ging in ein Flüstern über. „Ich kenne die Organisation, die sie geschickt hat. Die Kameradschaft. Sie werden mich umbringen. Und du bist auch in Gefahr, Elli. In großer Gefahr.“ Ihre dunkelblauen Augen waren jetzt fast schwarz.
Ich starrte sie an, unfähig, aus dem Wust an Fragen in meinem Kopf die richtige herauszuziehen. „Aber warum?“, brachte ich schließlich hervor, „was wollen die von Ihnen? Und von mir?“
„Sie suchen etwas“, flüsterte Frau Schmidt. „Dich kennen sie noch nicht, es sei denn, du hättest gestern ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber sie könnten auf deine Spur kommen. Und dann bist du in großer Gefahr.“
In meinem Brustkorb krampfte sich alles zusammen, mein Zwerchfell begann wild zu flattern. Ich zog den Kopf ein. „Sie sind ziemlich aufmerksam geworden auf mich. Ich habe bei der Verfolgung mit ihnen gekämpft“, gestand ich. Den Rest konnte ich ihr nicht erzählen. Obwohl ich gewollt hätte. Verdammt, warum fragte ich nicht einfach? Aber wenn sie selbst in dieser Situation nichts sagte …
„Was suchen sie?“, fragte ich leise. Wir hätten gar nicht flüstern müssen, die beiden Betten in Frau Schmidts Zimmer waren leer. Trotzdem hatte ich das Bedürfnis danach, so wie sie anscheinend auch.
Sie sah mir in die Augen. „Ich kann nicht darüber sprechen“, antwortete sie, „aber du musst es herausfinden! Es ist deine einzige Chance, ihnen zu entkommen!“
Nun verstand ich gar nichts mehr. Was sollte das denn heißen: Ich weiß es, sags dir aber nicht. Finde es heraus, sonst bist du geliefert. Ich hatte gedacht, sie sei meine Freundin. Noch besser, sogar meine Großmutter. Ich war noch nie böse auf Frau Schmidt gewesen, aber jetzt fühlte ich einen ziemlichen Ärger aufsteigen, vermischt mit Enttäuschung und Verzweiflung. Weil ich nichts kapierte – und sie es durch ihre merkwürdigen, bedrohlichen Äußerungen noch schlimmer machte.
„Erinnere dich“, unterbrach sie mich wieder, „erinnere dich an ganz früher, als du noch klein warst …“
Also doch!
„… dann wirst du alles herausfinden. Aber du musst dich beeilen!“
Wütend und schmerzerfüllt schaute ich sie an. Was war das hier für ein bescheuertes Verwirrspiel? Sie konnte nicht meine Großmutter sein. Meine Großmutter hätte so etwas nie mit mir gemacht! Aber meine Frau Schmidt auch nicht, jedenfalls nicht die Frau Schmidt, die ich kannte. Ich starrte sie an, wie sie da in diesem Krankenhausbett lag, die Decke bis zum Hals hochgezogen, zerbrechlich, mit immer noch unergründlichem Blick, angstvoll und entschlossen gleichzeitig, fremd. Und doch hatte es die Verbindung unserer Zellen gegeben. Mir wurde plötzlich klar, dass ich sie wirklich nicht kannte. Dass ich so gut wie nichts über sie wusste. Dass es immer nur um ihren Laden oder um mich ging, wenn ich bei ihr war. Niemals um sie. Es war mir bisher nicht aufgefallen, weil sie mir so vertraut erschien. Bis jetzt. Ich musste sofort aufhören, irgendwelche emotionalen Ansprüche an sie zu stellen, die nur in meinen Fantasien über sie begründet waren. Musste sie ganz neu betrachten. Musste ihr zuhören und versuchen zu verstehen, was ich tun konnte. Wie meine Rolle aussah. Als ich so weit gekommen war, fühlte ich mich besser. Ich nickte. „Okay. Ich gehe jetzt erst mal zu Julien. Wenn ich nachher mit ihm wiederkomme, habe ich bestimmt noch ein paar Fragen.“
„Ich weiß nicht, ob ich sie beantworten kann“, erwiderte sie leise.
Eigentlich musste ich mich beeilen, um noch rechtzeitig im Café zu sein. Dennoch lief ich die Treppenstufen zu Fuß nach unten, auch wenn weit und breit niemand zu sehen war. Kein Risiko jetzt. Ich hatte gerade keine Kapazität mehr frei. Musste versuchen, einen Überblick über die einzelnen Kriegsschauplätze in mir zu bekommen. Und die Kontrolle wiederzugewinnen. Mein Verstand arbeitete fieberhaft, aber nicht sehr effizient. Er wiederholte jedes Wort, das Frau Schmidt heute gesagt hatte, wieder und wieder, in der Hoffnung auf einen Geistesblitz. Mein Gefühlshaushalt war mit einer Versammlung durcheinanderschreiender Wichtigtuer zu vergleichen. Eine Emotion wollte ernster genommen werden als die nächste. Wut, Verzweiflung, Angst, Enttäuschung, Aufregung, Neugier, Trotz – zusammen veranstalteten sie einen Tumult, der es mir schwer machte, mich zu beruhigen. Mein Herz klopfte sehr laut und schnell, mein Magen flatterte, in meinen Ohren fiepte es, meine Zellen vibrierten, als stünde ich unter Strom.
Gut, soweit die Bestandsaufnahme. Jetzt musste ich runterkommen, und zwar ganz fix. Das Café war fast in der Innenstadt, also brauchte ich Aufmerksamkeit für den Verkehr. Und dann lag ja das Gespräch mit Julien noch vor mir. Ich lachte nervös. Heute Morgen hatte ich es noch als mein wichtigstes Thema betrachtet, Julien zu erklären, was es mit mir auf sich hatte – jedenfalls soweit, wie ich es selber wusste – und jetzt erschien es mir geradezu nebensächlich, gegenüber dem, was ich von Frau Schmidt erfahren hatte. Bei allen Zweifeln, die in mir aufstiegen, musste ich erst einmal davon ausgehen, dass das, was sie gesagt hatte, einen Sinn ergab – der mich zutiefst betraf.
Es kreiselte schon wieder in mir. Atmen Elli, atmen, Körper empfinden, konzentriere dich auf das Einfachste, was du wahrnehmen kannst! Die letzten Stufen bis zur Tür rannte ich trotzdem, blieb erst stehen, als ich an der frischen Luft war. Nahm einen tiefen Atemzug. Eine Runde Fliegen hätte jetzt gutgetan, um einen klaren Kopf zu bekommen. Doch es musste auch so gehen.
Ich setzte mich auf eine Bank, die vor dem Eingang des Krankenhauses stand, schloss die Augen und konzentrierte mich noch einmal auf den Atem und meinen Körper. Zwang mich, nichts weiter zu tun. Nach einer halben Ewigkeit wurde ich ruhiger. Konnte wieder denken, nachdenken über das, was Frau Schmidt gesagt hatte.
Der Schlüssel lag also in meiner Kindheit. An diese Zeit erinnerte ich mich nicht besonders gern. An die Ablehnung und den gequälten Ausdruck im Blick meines Vaters, sobald meine Fähigkeiten im Spiel waren, an die Strenge meiner Mutter, die alles tat, um das Leid meines Vater zu mildern, an den Zorn meiner kleinen Schwester, weil sie fühlte, dass ich ihr etwas Wesentliches