Lintu. Christine Kraus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Kraus
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения:
Год издания: 0
isbn: 9783957448323
Скачать книгу
gelangen, machte es nicht besser. Ich konnte aber auch nicht erst morgen mit einem Schraubenzieher wiederkommen. Die Zeit drängte. Es blieb mir nichts anderes übrig, ich musste hinunter. Bei dem Gedanken fing mein Herz laut zu klopfen an. Ganz leise und vorsichtig öffnete ich die Bodenklappe und schwebte hinaus. Ich wusste, dass sie mich nicht hören würden, aber mein Vater schlief unruhig. Er konnte jeden Augenblick aus dem Schlafzimmer gewankt kommen und mich erwischen.

      Deshalb beeilte ich mich. Der Weg war nicht das Problem, eher die Türen. Meine Eltern waren handwerklich nicht interessiert, deswegen quietschten und knarrten die Türen in diesem Haus, seit ich denken konnte. Ich hatte sie ab und zu geölt – gehalten hatte es nie lange. Zum Glück hatte ich noch nicht vergessen, welche Tür ich wie bewegen musste, damit sie möglichst geräuscharm aufging. Mein Training über so viele Jahre ließ sich fast mühelos abrufen. Im Keller, in der Werkzeugschublade mit dem Nötigsten, fand ich den Schraubenzieher, den ich brauchte. Ich huschte zurück nach oben und ging auf die Bretter los. Es dauerte nicht lange, bis ich das erste Brett gelöst hatte. Gespannt lugte ich in das Loch im Boden. Da stand er. Der Karton meiner Erinnerung.

      Die Bücher waren gut zu erkennen. Leider schaffte ich es wegen der Dachneigung nicht, an sie heranzukommen. Es blieb mir nichts übrig, als noch ein weiteres Brett abzuschrauben. Dabei versuchte ich, die Staubschicht auf den Brettern und der Umgebung zu erhalten, soweit es ging. Wollte ich nur meine Eltern täuschen oder gar diese grässliche Kameradschaft? Wenn die hier wirklich auftauchen sollte, dann wäre das Versteck wahrscheinlich das wenigste, worum ich mir Sorgen machen müsste …

      Vorsichtig nahm ich die Bücher aus dem Karton und packte sie in den Rucksack, ohne sie genauer anzusehen. Dazu hatte ich zu Hause noch Zeit genug. Ich hatte keine Ruhe mehr hier oben. Musste ja noch einmal hinunter in den Keller, um den Schraubenzieher zurückzubringen. Bei der schmalen Ausstattung mit Werkzeug würde das Fehlen dieses einen Schraubenziehers auffallen. Wahrscheinlich nicht sofort, so oft wurde die Schublade nicht benutzt. Doch ich konnte ihn auch nicht hier oben liegenlassen. Und mitnehmen wollte ich ihn schon gar nicht. Sehr umständliche Gedankengänge wegen eines Schraubenziehers – angesichts der drohenden Gefahr und meines Fundes, der vielleicht eines der Rätsel meines Lebens aufdecken würde. Doch so war es. Irgendwie hoffte ich, mit der Herstellung der gewohnten elterlichen Ordnung ihr Leben vor dem Hereinbrechen von unerwünschten Veränderungen bewahren zu können. Obwohl ich wusste, dass es sich anders verhielt, wünschte ich mir, sie hätten nichts mit der ganzen Geschichte zu tun. Sie kamen mir so hilflos vor in all ihrer Ängstlichkeit. In meiner gesamten Kindheit und Jugend hatte ich darunter gelitten, aber genau in diesem Augenblick jetzt konnte ich fühlen, dass sie die eigentlichen Leidtragenden waren.

      Während ich die Bretter wieder montierte und den Schraubenzieher wegbrachte, stieg eine tiefe Traurigkeit in mir auf. Ich hatte das unbedingte Gefühl, dass es große Veränderungen in meinem Leben geben würde und dass meine Eltern nur irgendwo am Rande mit dabei waren, weil ihre Angst sie unbeweglich machte. Das schmerzte. Gleichzeitig wollte ich sie beschützen und ihnen ihr erstarrtes Leben lassen, damit sie nicht noch mehr Angst bekämen. Wie bescheuert widersprüchlich. Es bedrückte mich, dass ich keinen Ausweg sah.

      Auf dem Heimweg musste ich mich wegen dieser Gefühle und der Neugier auf meine Beute sehr stark konzentrieren. Ich hatte das Bedürfnis, Luftlinie nach Hause zu schießen, und brauchte deshalb all meine Kraft, um mich an meine eigenen Regeln zu halten. Immer im Schatten der Dächer, alle Straßen vor dem nächsten Abschnitt absuchen. Ich wusste, dass das absolut notwendig war und war gleichzeitig entsetzlich ungeduldig. Die Abschnitte flog ich in Rekordzeit. Nachdem ich endlich die Balkontür hinter mir geschlossen hatte, streifte ich im Flug die Schuhe von den Füßen und landete polternd auf meinem Bett. Zerrte mir den Rucksack vom Rücken und leerte den gesamten Inhalt vor mir aus.

       3. Kapitel

      Da lagen sie nun. Das schmale Bändchen aus Frau Schmidts Buchladen und vier ebenso kleine Bücher aus dem Karton. Eins davon sah dem aus Frau Schmidts Laden verdammt ähnlich. Na also. Hatte mich meine Erinnerung nicht getäuscht. Ich sah mir die beiden Bücher genauer an. Sie hatten den gleichen Einband mit dem gleichen Titel: „Lintu“. Ich schlug das Büchlein aus dem Karton auf und las den Untertitel auf der ersten Seite: „The Flying People“. Mir stockte der Atem. Die abgebrochene Bemerkung von Frau Schmidt dröhnte in meinen Ohren. Sie hatte „fliegendes Volk“ sagen wollen, ganz bestimmt. Wenn es das war, was ich glaubte, dann hielt ich ein Buch über mich in den Händen. Über mein Volk.

      Ich gehörte zu einem Volk! Bei dem Gedanken wurde mir ganz flau. Gut, dass ich auf meinem Bett saß. Elli – ruhig, befahl ich mir. Du weißt, deine Fantasie ist grenzenlos. Lies erst einmal nach, worum es sich handelt. Obwohl ich mich zur Vernunft rief, probierte ich den Namen schon aus, während ich nach den restlichen Büchern griff. Lintu – wollte ich so heißen? Guten Tag, ich bin eine Lintu. Hello, I belong to the Flying People. Das hörte sich gut an. Sehnsucht stieg in mir auf. Seufzend wandte ich mich den anderen Büchern zu. Sie waren alle gleich, mit einem weichen braunen Ledereinband, keine harten Deckel, eher Hefte. Sie waren alle eng beschrieben, in einer leicht schräg gestellten, kleinen Handschrift. Es machte den Eindruck, als hätte sich jemand Mühe gegeben, so klein zu schreiben, damit mehr hinein passte, denn nirgends war ein Rand gelassen. Die Schrift war kein Sütterlin, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Ich war wohl nur als Kind nicht mit ihr zurechtgekommen, genau wie mit der englischen Sprache des Büchleins. Ich entzifferte die ersten Zeilen:

      Tagebuch von Elisabeta Marante. Elisabeth, mein Vorname.

       13. Januar 1955. Simón und ich geben den Kampf auf. Wir werden Alfonso, unseren kleinen Sohn, holen und nach Südamerika gehen. Zu den Letzten unseres Volkes.

      Da, schon wieder dieses betörende Wort. Ich war so aufgeregt, dass ich fast nicht atmen konnte.

       Simón hat endlich eingesehen, dass sich unsere Gruppe in eine Richtung bewegt, die immer weiter von unseren Idealen abweicht. Zu Beginn traten wir für die Befreiung der spanischen Bevölkerung von Franco ein. Die stolzen Spanier jedoch ließen sich von Francos Regime einschüchtern wie seinerzeit die Deutschen von Hitler. Als Tomás, Bodo und Rosaura sich vor sechs Monaten von uns trennten, wollte Simón diese Entwicklung so wenig wahrhaben wie Javier, unser Anführer. Der Kampf gegen Hitler mündete in die Freiheit der Überlebenden. Der gleiche Kampf gegen Franco wird ins Abseits führen. Wir müssen erkennen, dass nicht alles, was bei dem einen geholfen hat, bei dem anderen ebenso fruchtet. Javier jedoch will nicht aufgeben, obwohl es immer weniger Rückhalt in der Bevölkerung gibt. Er hat sich ein neues Ziel gesteckt, neue Mitstreiter gewonnen – und wird immer radikaler. Sein Kampf gilt nun der Unabhängigkeit. Er schreckt nicht davor zurück, Anschläge zu planen, Opfer auszuwählen, um Franco in die Knie zu zwingen und die Welt aufzurütteln, wie er sagt. Doch wir sind Kämpfer, keine Terroristen. Ich kann darin keinen Sinn erkennen. Ganz im Gegenteil halte ich diese Vorgehensweise für falsch. Simón ist meiner Ansicht. Es tut mir leid um Javier, dennoch bin ich froh, dass wir die Gruppe rechtzeitig verlassen werden.

      Ich musste eine kurze Pause einlegen. Wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte über das, was ich da las. So lange hatte ich darauf gewartet, etwas über mich, über meine Vergangenheit zu erfahren, und jetzt wusste ich nicht, ob ich es wirklich erfahren wollte. Ob ich das wissen wollte, was sich da ankündigte. Etwas ganz und gar anderes als eine einfache, normale Vergangenheit. Das gehörte alles zu mir, soviel konnte ich fühlen. Aber nicht mehr. Wo würde es hinführen? Frau Schmidt musste Elisabeta sein! Es ging nicht anders. Sie musste meine Großmutter sein! Und Alfonso mein Vater, Alfons, er hatte nur das O weggelassen. Wenn mein Vater ein Lintu war, warum konnte er nicht fliegen? Warum hatte seine Mutter ihn verlassen, wo sie ihn doch so offensichtlich liebte? Oder hatte er sie weggeschickt? Warum hatte sie mich verlassen? Liebte sie mich nicht? Sie hatte mich geliebt. Liebte sie mich nicht mehr? Warum schwiegen sie – alle? Warum sollte ich jetzt diese Bücher suchen? Warum jetzt alles erfahren? Sollte ich alles erfahren? Oder wieder nur so viel, wie es ihnen passte? Wer waren „sie“? Ich ächzte. Das Heft glitt mir aus der Hand. Ich ließ es liegen, schloss die Augen.

      All die Fragen, die ich mir jemals zu meiner Familie und meiner Vergangenheit gestellt hatte