Julien war nicht übermäßig begeistert von meinen Moskauplänen. Er hatte von einer recht aktiven Neonaziszene in Russland gehört, die Großmutter offensichtlich nicht kannte. Es war nicht klar, ob die Kameradschaft nicht auch dorthin Verbindungen geknüpft hatte – so wie zum Rest der Welt. Wir konnten nur hoffen, dass sie aus reiner Tradition nicht in östliche Richtung agierten. Das Handy war auch noch ein Problem. Mit dem konnte ich überall geortet werden. Das musste ich mit Julien besprechen. Er wäre im Grunde der Einzige, den ich anrufen würde. Ich warf einen Blick zu ihm hinüber. Seit wir losgefahren waren, telefonierte er eigentlich ununterbrochen. Er fuhr langsamer als sonst, es mussten wichtige Gespräche sein. Ich hatte mir zur Angewohnheit gemacht, mich gedanklich mit anderen Dingen zu beschäftigen, wenn er telefonierte, damit ich nicht aus Versehen interne Geheimnisse erfuhr. Julien wusste das zu schätzen. Anfangs hatte er angehalten und draußen weitertelefoniert, wenn ich nicht mithören sollte. Doch inzwischen wusste er, dass ich nichts ausplauderte und telefonierte einfach. Endlich hielten wir vor dem Café, in dem wir uns vor knapp einer Woche getroffen hatten, als die Welt sich noch anders drehte. Im Hineingehen raunte Julien mir zu: „Gute Neuigkeiten, das Zeugenschutzprogramm gilt für deine ganze Familie. Wir können in den nächsten Tagen alles festmachen.“
Er suchte uns einen Tisch im hinteren Teil des Cafés aus.
„Bestell du“, sagte ich und ließ mich auf den Stuhl fallen. Ich war zwar hungrig, aber Appetit hatte ich nicht wirklich. Julien kam mit zwei Cappuccinos zurück.
„Der Rest kommt gleich“, grinste er. Warum grinste er?
„Meinst du wirklich, die Kameradschaft überwacht den Buchladen?“ Einerseits hielt ich es für möglich, andererseits für übertrieben.
„Ich habe keine Ahnung. Wir überwachen ihn jedenfalls nicht mehr. Die Untersuchungen sind abgeschlossen, es gibt keinen Grund mehr, dort zu sein. Aber die Kameradschaft könnte beobachten, was mit dem Laden weiter geschieht. Vielleicht warten sie auf dich. Leider haben wir keine Informationen, wie weit sie über dich Bescheid wissen. Bis jetzt sind sie zwar nicht wieder aufgetaucht, doch das heißt gar nichts.“
„Hast du nicht gesagt, dass drei Abteilungen hinter ihnen her sind?“
„Ist ja auch so, nur haben wir noch nicht viel.“
„Und warum sollte ich dann sicher sein, wenn ich in Deutschland bleibe?“
„Nur im Zeugenschutzprogramm.“ Er beugte sich zu mir herüber und sah mich mit ernster Miene an. „Die nächsten Tage, in denen du deine Angelegenheiten regelst, können gefährlich werden. Du musst sehr vorsichtig sein. Wie gesagt, wir haben keinen Hinweis, wie viele sich wo herumtreiben, um dich ausfindig zu machen.“
Tolle Aussichten. „Ich muss in den Laden und in Großmutters Wohnung.“
„Ich weiß. Ich will versuchen, dir einen Personenschutz zu organisieren.“
„Nee, oder? Kannst du das nicht machen?“
„Du, ich muss auch mal wieder was arbeiten. Ich gehe viel zu oft mit dir im Wald spazieren und frühstücken. Ich werde dir einen jungen hübschen Burschen aussuchen, der charmant ist und gut schießen kann.“ Julien zwinkerte mir zu.
„Ach, und du meinst, wenn er dir gefällt, hilft mir das darüber hinweg, dass ich mich dann die ganze Zeit im Schneckentempo bewegen muss wie dein Sonnyboy?“, raunzte ich zurück.
Die Bedienung kam und häufte Berge von Essen auf unseren Tisch. Jetzt wurde mir klar, warum er vorhin so gegrinst hatte. „Wer kommt denn noch?“, fragte ich.
„Du musst alles aufessen, und was du nicht schaffst, lassen wir dir einpacken. Ich wette, dein Kühlschrank ist eine Eiswüste“, antwortete er. Er hatte eine Miene aufgesetzt, die wenig Raum für Widerspruch ließ.
Seufzend zog ich einen Teller Bratkartoffeln aus dem Gewirr zu mir her. Wahrscheinlich hatte er seinen ganzen Charme spielen lassen, um mir die zu organisieren. Ich sollte dankbar sein. Schon nach den ersten Bissen merkte ich, wie gut mir das Essen tat. Julien schien auch Hunger zu haben. Wir mampften schweigend einen Teller nach dem anderen leer. Die Bedienung lief während unseres Gelages ständig hin und her und räumte das abgegessene Geschirr ab. Auch wenn das ihr Job war, fand ich es nett. Als Julien wieder zu sprechen begann, hatten wir nur noch zwei Schälchen mit Pudding übrig.
„Du siehst besser aus“, bemerkte er. „Wie sind deine Pläne?“
„Ab wann hetzt du mir den schießenden Schönling auf den Hals?“ fragte ich zurück.
„Ab sofort. Er wird jede Minute eintreffen.“
„Das ist jetzt nicht dein Ernst!“ Ich war wirklich aufgebracht. Wie sollte ich denn vorwärtskommen, mit so einem Klotz am Bein? Für den Laden und die Wohnung von Großmutter sah ich es ja ein, aber ich konnte doch nicht von morgens bis abends mit einem Kindermädchen rumlaufen! Damit würde ich doch erst recht auffallen. Und vor allem schön verfolgbar bleiben. Madurgeschwindigkeit!
Julien schien meine Gedanken zu erraten. Er lachte laut. „Du machst ein Gesicht, als würde ich dich anketten. Ich hab eine Überraschung für dich. Du kriegst nicht nur einen, sondern sogar zwei Aufpasser.“ Mit einem lieblichen Lächeln wartete er meine Reaktion ab.
Ich versuchte, meinen Missmut nicht ganz so stark zu zeigen. Er meinte es ja nur gut. Trotzdem konnte ich nicht verhindern, dass mir ein „oh nein“ herausrutschte.
„Tja, und die beiden sind professionelle Skater. Unsere Special Agents für Jugendkriminalität.“ Er lehnte sich zurück, um seine Worte wirken zu lassen.
Ich schaute ihm direkt in die Augen und fand, dass er die Wahrheit sagte. Mir fiel ein Stein vom Herzen. „Mensch Julien, ich könnt dich echt schlagen! Mich so zu erschrecken! Aber – du bist einfach ein Schatz! Das ist voll cool! Ich könnte dich knutschen!“
„Was denn jetzt?“
„Beides!“ Mit einem Satz war ich auf seiner Tischseite und knuffte ihn auf den Oberarm. Ein bisschen fest, damit es ihm auch ein bisschen wehtat. Und dann fiel ich ihm um den Hals. Er schlang seine Arme um mich und drückte mich an sich. „Ich vermisse dich jetzt schon“, sagte er leise.
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