Ich darf diese Frau auf keinen Fall aus den Augen verlieren!, pochte es in ihm und schon beeilte er sich in die Richtung der Flüchtigen. Doch gerade, dass er die ersten Schritte in Richtung der ihm nach wie vor Unbekannten gesetzt hatte, da die Verwandelten längst zum Sprung auf den Gassenboden ansetzten, vernahm der Älteste der drei Brüder eine Stimme. Offensichtlich kommunizierte die fremde Schöne via Telepathie und klar und von freundlichem Klang war ihre Botschaft: „Ja, ich bin Anna von Seron, doch lauf, wenn dir dein Leben lieb ist! Ich komme allein zurecht!“
Pyron kannte das Gerücht und die landläufige Meinung, dass Elfen und vielleicht auch ihre Verwandten, die Elfenartigen, zur Gedankenübertragung befähigt wären, doch jetzt hatte er Wichtigeres zu schaffen, als sich darum zu kümmern, und er rief hastig und lautstark nach der jetzt rennenden Frau: „Anna von Seron! Ich will Euch helfen!“
Flüchtend entblößte sie dadurch ihr Haupt, dass sie ihre schmierige Kapuze herunterzog, wandte sich für einen Sekundenbruchteil nach dem Drachenartigen um und dieser erhaschte kurz einen Blick auf Annas bildhübsches Gesicht.
„Lass ab von mir! Ich komme allein zurecht!“, vernahm er abermals die helle und jetzt nicht mehr ganz so freundliche Stimme, jedoch hatte die Elfenartige ihm dieses Mal die Worte unvermittelt zugerufen.
Unter den Freudenmädchen, unter denjenigen, welchen gewahr wurde, dass über ihnen befremdliche Wesen zum Sprung auf den Gassenboden ansetzten, brach ein fürchterliches Gekreische aus. Anna von Seron, gerade noch fünfzehn Schritte von Pyron entfernt, war um die nächste Ecke gebogen, hinter ihr verschwunden, da vernahm der Drachenartige die Geräusche von hoch oben auf hartem Grund auftreffenden Körpern: Direkt vor ihm landeten zwei der anderen Verwandelten, wiederum zwei weitere dicht hinter ihm. Nun war es so weit, dass Pyrons Sinne bis zum Bersten gespannt waren, und sich hastig nach einer Fluchtmöglichkeit umblickend, wurde sich Pyron mit Entsetzen eines gewahr; vor Furcht schauderte es ihn: Ich bin kein Kämpfer! Wie um alles in der Welt soll ich gegen diese vier bestehen?
Er drehte und wandte sich im Kreise seiner Feinde, bis Pyron möglicherweise unbewusst, vielleicht aber seiner Veränderung wegen ein mittelgroßes Fass in unmittelbarer Reichweite ergriff, es erhob und dieses auf die zwei Drachenartigen vor ihm warf. Rasch drehte der Verwandelte sich, einen letzten Blick in Richtung der fliehenden Elfenartigen Anna von Seron erhaschend, und blindlings hieb er dann mit seinen Pranken nach den zwei Angreifern hinter ihm.
Überraschend ließen die vier allesamt von ihm ab, verschwanden einfach. Zwei von ihnen rannten die Gasse hinauf, weg von der flüchtenden Anna, welche nun endgültig aus Pyrons Blickfeld verschwunden war. Die beiden anderen stahlen sich den Weg hinfort, welchen sie hergekommen waren: Blitzschnell sprangen die beiden Verwandelten die Fassaden entlang, hinauf auf die Pyron umgebenden Dächer der Stadt Masir. Unter den Freudenmädchen, welche noch nicht im Angesichte des gerade stattgefundenen Kampfes die Flucht ergriffen hatten, herrschte ein heilloses Durcheinander, sie versperrten dem Drachenartigen unwillkürlich den Weg zu Anna. Achtlos schubste er die Frauen beiseite, wischte sich vor Erleichterung darüber, dass die vorherige Kampfessituation so glimpflich für ihn verlaufen war, den Schweiß von der geschuppten Stirn. Des Verwandelten Zunge zückte vor Aufregung nun noch viel hastiger hin und her und während dieser sich hinter Anna von Seron sputete, drehte er sich noch einmal um, sich vergewissernd, dass er nicht verfolgt würde, und stürmte das sich ihm eröffnende verwinkelte Geflecht der seitlichen Gassen Masirs entlang.
Ich muss lernen, mich auf meine neuen Sinne zu verlassen – vorher haben sie mich auch nicht verraten, dachte er, während es ihn wähnte, dass er einen feinen Geruch wahrnahm, ihn wiedererkannte – wie zuvor, eben in der Gasse, bevor er auf Anna gestoßen war. Pyron wusste jetzt nicht, wo sich die Elfenartige aufhielt oder wohin sie verschwunden war. Er hielt einen Verweilmoment inne, schloss die Augen und konzentrierte sich, dann sog er die Luft der Umgebung tief durch seine Nüstern, doch: Die Antwort darauf, wo sich Anna womöglich aufhalte oder wie er sie finde, kam von allein: „Wer seid Ihr und was wollt Ihr von mir?!“, hörte Pyron erneut die lichte Stimme in seinem Haupt zu ihm sprechen.
„Fräulein von Seron? Seid Ihr es, Anna von Seron?“, erwiderte Pyron in das Nichts vor ihm, unterdessen gähnende Leere die Gasse vor ihm zeichnete, und nicht einmal ein einziger Mensch, geschweige denn ein Elf oder Zwerg, zu sehen war.
„Ich habe Euch doch schon einmal mitgeteilt, dass ich gut auf mich selbst aufpassen kann!“
Erschrocken drehte sich Pyron um, er fühlte durch einen Atemhauch, dass Anna – oder wer auch immer – hinter ihm aufgetaucht war, und der Drachenmann drehte sich kampfbereit um.
„So seid Ihr mir keine Hilfe!“, sprach die Elfenartige hinter ihm, welche Pyron, nur eine knappe Armlänge von ihm entfernt, eine kurze Klinge direkt unterhalb seiner Schnauze an die Kehle hielt. Stocksteif hielt er inne, mit so einer Begegnung hatte er in der Tat nicht gerechnet. Doch kein Angriff folgte und auch keine Beleidigung, lediglich ein fragender Blick war der hübschen Frau mit dem dreckigen Gesicht unter der Kapuze zu entnehmen. Sich für seine Unvorsichtigkeit mahnend, versuchte Pyron ein Gespräch zu eröffnen, doch das Seine „Verzeiht bitte!“ wurde von einer harschen Gestik Anna von Serons unterbrochen, sie deutete ihm zu schweigen.
„Sprecht! Wer seid Ihr, seid Ihr von Sinnen? Seid Ihr einer von denen?“, platzte es unvermutet aus der blondhaarigen und schmutzigen Maid hervor – und in Erinnerung an den Angriff der Bestien zuvor, schwang Verachtung in ihren Worten mit.
Wie er bemerkte, dass sie eine Antwort erwartete, holte Pyron tief Luft, versuchte sich zu fassen: „Mein Name ist Pyron – ich bin eben auf der Suche nach der Elfenartigen Anna von Seron – Euch! Meine Brüder und ich benötigen Eure Hilfe.“
Verblüfft schaute die Frau ihn an, zögerte kurz, und da ergänzte sich der Drachenartige: „Verzeiht bitte, weder wollte ich Euch erschrecken noch etwas anhaben.“
Die Elfenartige schwieg für die Weile weniger Atemzüge und fasziniert schaute Pyron die junge Anna von Seron an. Er bemerkte, dass sie ihr langes Haar zu einem kunstvollen Zopf geflochten hatte. Wie Anna von Seron nun mahnend ihre Brauen hob, packte sie den Dolch beiseite und sprach mit unterdrückter Wut in der Stimme: „Ich glaube Euch und abermals, ja, mein Name ist Anna von Seron. Doch kümmert Euch um Eure Belange. Ich kann nichts für Euch tun.“ Der Drachenartige vergaß für einen Augenblick das ihn Umgebende und schon machte die Edelblütige auf behändem Fuße kehrt, ward im Begriffe, die Gasse hinab zu verschwinden. Pyron ergriff Anna behutsam am linken Arm, danach strebend, diese festzuhalten und daran zu hindern, zu verschwinden – da begriff er, dass er vermutlich einen Fehler gemacht hatte: Flink griff sie mit ihrer rechten Hand unter ihren Mantel, zückte wieder mal die kunstvoll verzierte, silberfarbene Klinge, hielt sie dem Verwandelten, dem Drachenartigen direkt abermals unter die Kehle.
„Hütet Euch davor, mir nachzustellen!“, sprach sie fest in diesem Moment, und da geschah es: Wie aus heiterem Himmel tauchten die vier anderen Drachenartigen, die Verwandelten, woher auch immer sie kamen, in der Gasse vor und hinter ihnen auf – ein Hinterhalt!
„Verflucht seien Serktat und dessen Umtriebe!“, rief ihnen Anna entgegen und machte sich wie zuvor daran zu flüchten, doch es war bereits zu spät: Von vier dem verwandelten Pyron mindestens ebenbürtigen Feinden umzingelt, verblieb Anna von Seron keine andere Wahl, als just bei Pyron zu verbleiben. Rücken an Rücken standen die zwei augenblicklich da, Anna mit ihrer Klinge in der rechten Hand, Pyron mit seinen zum Kampfe geformten Pranken, bereit, aufs Erbittertste zu kämpfen.
„Haltet Euch an mich! Ich beschütze Euch, koste es, was es wolle!“,