Verklärung ist für den Durchschnittspilzner eine größere Triebfeder als Naturerlebnis, Abenteuerlust, Entdeckerfreude oder Genusserwartung! Kein Waldstück verklärt sich für ihn aber jemals, wenn es von Brombeersträuchern, Brennesselruten und manchen Farnwedeln umsäumt oder gar durchsetzt ist. Denn dort hält sich kein Myzel. Die ideale Verklärung eines fruchtbaren Biotopbodens hingegen lässt vor dem inneren Auge ein Stück Nadelwaldboden entstehen, das moosbewachsen und ganz leicht grasdurchsetzt ist, von Erika- und auch Heidelbeerkraut umstanden wird, das pralle süße, kirschgroße Früchte trägt ... Da wären wir wieder bei der Verklärung, genauer bei der Verklärung der Verklärung. Und bevor noch ein kartoffelsackgroßer Steinpilz ins Bild kommt, wollen wir lieber die Pausenklingel in der Jägerlateinschule schellen lassen.
Ein Männlein steht im Walde ...
(Friedos neue Erkenntnisse zur Kulturgeschichte des Fliegenpilzes)
Zur Einführung lasse ich Wolli zu Wort kommen, der diese Geschichte anfangs der 1980er Jahre in der Dübener Heide erlebt hat:
„Wenn du einmal hier bist, dann solltest du auch einen Blick hineinwerfen. Natürlich befolgte ich die Aufforderung dieses Moduls meiner Selbstgespräche, das sich aktiviert, sobald ich im Wald bin. Also, dreihundert Meter nördlich vom Bertagrab rechts ran an die Einmündung eines Waldweges auf die F2. Taschen nach Leinenbeutel und Messer abgeklopft, Auto abgeschlossen und rein in den Wald. Nach zwei Minuten war ich an der Stelle: Etwa achtzig Jahre alte Kiefern grenzten an ein Waldstück mit jüngeren Bäumen, schütteres kniehohes Gras, einige dünne Birken. Ein paar Meter von dort, wo unlängst mitten auf dem Weg ein verglaster Hochstand stand. Möglicherweise mit Hochstandheizung und Zielwasserbar.
Doch wo waren die Fliegenpilze? Fliegenpilze standen ein paar herum zwischen den Bäumen, nicht aber an dem bewussten Fleck. Maronen waren einige da, genauer lagen herum, frisch geschlüpfte, ohne Fehl und Tadel, bis auf die, die am Stiel oder Hut eingedrückt waren. Wer bloß hat sie so würdelos behandelt? Ich sammelte ein, was brauchbar war. Wildschweine können das nicht gewesen sein. Die hätten auch die Fliegenpilze umgeworfen. Also, warum sah ich keine? Ich bin auf die würzigen Maronenröhrlinge aus, habe mich hier aber all die Jahre von den benachbarten Fliegenpilzen heranwinken lassen. Ich umkreiste die Stelle, ging in die Knie, um einen anderen Blickhorizont zu gewinnen - und fand ein Russenkäppi. Darunter ein hühnereigroßer, in seinem gelben Rot leuchtender Fliegenpilz mit Hüllresten am Hutrand, die seinen Stielansatz wie ein weißer Schal umschlossen. Ein Pilzchen wie gemalt! Vom Regenwasser frisch gewaschen, geradewegs zum Reinbeißen.
Zum Reinbeißen? Da dämmert es bei mir. Waren das vor zwanzig Minuten nicht zwei voll besetzte Mannschaftswagen, die im Militärkonvoi die Straße Richtung Wittenberg dahinzuckelten? Dann müssten auch die frischen Reifenspuren am Straßengraben von den Fahrzeugen der Soldaten stammen. Ist doch klar! Wenn sich eine Kompanie ruhmreicher Sowjetsoldaten auf Fliegenpilze stürzt, bleibt kein Pilz stehen. Weil sie nämlich bei ihnen hoch im Kurs stehen, ganz besonders bei den Sibirjaken, um sie als Rauschmittel zu konsumieren. Seien sie ihnen gegönnt.
Ich hatte damals keine Ahnung, was das ist: Rauschmittel. Wir wussten vom Hörensagen nur, dass man in westlichen Gefilden Drogen als Pulver, Pillen oder Spritzen für teures Geld kauft oder klaut und schluckt, durch die Nase zieht oder spritzt. Und dass man die Welt dann rosarot sieht, allen Ärger vergisst, sich stark wie der gleichfarbige Panther fühlt und dergleichen Halbwissen mehr.
Und wie ich so nachdachte, was mir mein Vater vom Fliegenpilz alles erzählt hat, hörte ich, wie es von der Straße her quietscht und rumpelt. Ein Auffahrunfall?
Auf dem Rückweg zum Auto schossen mir seine Worte in den Sinn, dass der Fliegenpilz Fliegenpilz heißt, weil er, in Milch gebrockt und aufs Fensterbrett gestellt, das sicherste Mittel ist, lästige Fliegen loszuwerden. Das kannte er nicht nur aus dem elterlichen Hause, sondern hatte es auch bei Leuten in der Sowjetunion gesehen. Aber gieriger noch als die Fliegen, meinte er, waren 1949 die Wachsoldaten im sibirischen Gefangenenlager nach Fliegenpilzen gewesen. Ein paar Bissen davon geschluckt, und bald darauf hätten sie angefangen, mit den Gliedern zu zappeln, die Augen zu verdrehen und sich selber zu malträtieren.
Plötzlich stürzten drei braune Uniformen auf mich zu, zwei mit Glatze, ihr Schiffchen in der Hand, und eine Schirmmütze. Also wieder ein Mannschaftstransport. Der Offizier zu mir: Woher ich das Käppi hätte, was in dem Säckchen drin wäre. Ein Soldat tastete mich ab. Das Pilzmesser! Ich müsste mitkommen, auf der Kommandantur würde alles geklärt werden.
Sie geleiteten mich zum Mannschaftswagen, setzten mich ins Führerhaus. Die beiden Soldaten blickten mürrisch ihren Kameraden hinterher, die in den Wald ausgeschwärmt waren. Die ersten kehrten zurück, zwei, drei Fliegenpilze im Schiffchen, ihrem Käppi.
In einem Raum mit vergitterten Fenstern, er gehörte zur sowjetischen Kommandantur in Leipzig, hatte ich dann bis zum Morgen Muße, über meine dumme Pilzneugier nachzudenken. Unterbrochen von zwei kurzen Verhören in der Nacht. Gegen neun Uhr durfte ich die Kommandantur verlassen.
Ich meldete mich telefonisch krank bei meinem Chef und suchte nach einer Fahrgelegenheit in die Dübener Heide. Gegen Mittag war ich bei meinem Trabi. Es fehlten die beiden Vorderräder, der Rückspiegel sowieso, der Hauptschalldämpfer und das Auspuffrohr mit dem Nachschalldämpfer. Das waren aber nicht die Russen.“
Die Geschichte sollte hier etwas vertieft werden, weil es zwei Umstände geradezu herausfordern: Einmal wird behauptet, dass der Name des Fliegenpilzes nichts mit der für Fliegen todbringenden Wirkung zu tun habe. Zum anderen glauben Manche, das Männlein, das einsam und purpur gewandet im Walde steht, könnte auch ein Fliegenpilz sein.
Zuvor aber noch der Hinweis darauf, dass man in den ländlichen Haushalten von der mit Fliegengift angereicherten Kuhmilch abgelassen hat, seit die Stubenkatzen eines Tages fast alle auszusterben drohten. So jedenfalls erzählte es Wollis Vater. Er kannte auch den Fliegenfänger noch, der vor rund hundert Jahren erfunden wurde: Ein mit klebriger Masse getränktes Band von 50 oder mehr Zentimetern Länge wurde aus seiner Hüllkapsel herausgezogen und an die Zimmerdecke gehängt. Im Herbst musste der Fliegenfänger nach drei Tagen erneuert werden. Oder er riss infolge beträchtlicher Gewichtszunahme. Bei der Oma landete einmal das mit toten und halbtoten Fliegen übersäte Klebeband auf dem angerichteten Kirmeskuchen. Die Fliegenklatsche, ein vielgestaltiges, doch einfaches Gerät zur Selbstverteidigung, gibt es hingegen schon so lange, wie es die Gemeine Stubenfliege gibt. Die Klatsche ist aber wenig effektiv und neigt zu schmerzhaften und verlustreichen Fehlschlägen. Den Katzen sollten diese instrumentalen Variationen zur Fliegenbekämpfung eher recht gewesen sein.
Was nun den Namen des Pilzes betrifft, herrscht im europäischen Sprachraum Einhelligkeit, natürlich mit den obligatorischen Ausnahmen: Überall kommt die „Fliege“ oder zumindest etwas Gefahrdrohendes für Fliege oder auch Mensch in der Bezeichnung vor! So im Niederländischen (vliegenzwam), Schwedischen (flugsvamp), Dänischen (fluesvamp) und Norwegischen (fluesopp); im Italienischen (ovolo malefier, frei übersetzt „Unheil bringender Kaiserling“) und im Französischen (amanite tue-mouches – so viel wie „Fliegentöterwulstling“); im Polnischen, Russischen und Tschechischen (,wo er muchomor u.ä. lautet, was soviel wie „Fliegenmassensterbling“ heißt), ja selbst in der nicht indoeuropäischen Sprache der Ungarn; hier heißt er légyölö galóca, „Fliegenknollenpilz“. Natürlich hat auch sein lateinischer – wissenschaftlicher – Name den Fliegenbezug: Amanita muscaria. Nur die Spanier und, wie könnte es anders sein, die Engländer tanzen aus der Reihe, halten sich nicht an die Lautung in ihren romanischen und germanischen Schwestersprachen. Hier heißt er neutral oronja falsa, „Falscher Kaiserling“ und dort skurril toadstool, „Krötenschemel“.
Die Namensübereinstimmung spricht nicht nur sprachlich dafür, dass in einem großen gemeinsamen Kulturraum etwas einhellig bezeichnet wurde, was den gleichen Haupteffekt liefert. Hier sollten sich mal vergleichende Mythologie, Geschichte religiöser Riten und Volksetymologie zusammentun und ein glaubhaftes Resümee abliefern für die nächste