Und Trost, Erbauung und klaren Kopf fand er in den wunderschönen, noch intakten Auwäldern der Messestadt. Doch nur wenige der üblichen Sammelpilze! Es waren hauptsächlich Schirmpilze und Riesenboviste, was die genießbaren größeren Arten betrifft.
Womit wir wieder beim Thema wären. Nunmehr im Ruhestand, entwickelte er zur daseinsausfüllenden Liebe, was in Kindesjahren lästige Pflicht gewesen war. Diese Liebe, bekennende Hingabe, Forschungsmotivation und sportliche Aufgabenstellung im Reich der Pilze kann bei einem Menschen, der kein Einzelgänger ist, nur gedeihen, wenn sie geteilt wird. Und wenn man, wie in unserem Falle, von den Teilhabern auch profitieren kann. So umgab er sich im Laufe der Jahre seit seiner Verabschiedung von der Universität mit Gleichgesinnten, von denen Wolli, Gerda und ich den harten Kern um die „Keimzelle“ Hellmut bilden. Sogar die Lautung der Vornamen hatten wir unseren gemeinschaftlichen Streifzügen in den näheren oder ferneren Pilzwäldern zu verdanken. Zweisilbigkeit war Bedingung. „Friedo“ ruft sich zur manchmal notwendigen gegenseitigen Ortung viel deutlicher als Friedrich, „Wolli“ kann auch sehr laut gerufen werden und ist gegenüber Wolfgang so gut wie unverwechselbar, und Gerda heißt eigentlich Grit. Da wäre aber jedes Pilzmännlein erschrocken und vor Scham in den Waldboden versunken, hätte einer das klanglose „Grit, Grit“ gerufen. Es klang wie „igitt“. Grit selber hätte womöglich das eine oder andere Mal den Weg oder den Treffpunkt verfehlt.
Wir fanden uns, weil ein jeder auf der Suche nach der geheimen Wirklichkeit im Reich der Pilze war. Und weil jeder einen anderen waldgerechten Wesenszug hatte und einem anderen Beruf nachging. Weil wir unterschiedlichen Alters und verschiedenen Familienstandes waren. Die eine Seite war das gemeinsame Interesse, die andere Seite die Vielfalt der Kanäle, aus denen der Brennstoff für die Flamme der Begeisterung munter floss, von der diese Vorliebe, ja Leidenschaft, gespeist wurde. Das galt für den Vertreter der exakten Wissenschaften genauso wie für den zögerlichen Schöngeist, der in seiner Handlung überwiegend auf Erfahrung und in seiner Denkweise das meiste auf Sozialbezogenheit setzt. Das galt für den jungschen Hüpf-in-die-Welt mit seinem Hang zu esoterischen Betrachtungsweisen genauso wie für die charmante junge Frau und, später, realpolitische Hausfrau, die ihre Familie nur allzu gern mit ihren Pilzrezepturen verwöhnte.
So zogen wir denn schon ein viertel Jahrhundert lang durch die Kiefernwälder des Flämings, die Nadel- und Laubbaumgesellschaften in der Dübener Heide, die sandigen Kiefernforste in der Niederlausitz, die Waldgebiete hinter Dahlen und vor Wermsdorf, die bescheidenen Nadelwaldpartien im Colditzer Forst und die kleineren und größeren Waldflecken im Thüringischen Holzland. Selbst die dünn gesäten Buchenwaldungen entlang Saale und Unstrut ließen wir nicht aus. Hier begann sogar unser Pilzjahr im April mit den lange tapfer umherstehenden Mairitterlingen und den lustigen kleinen Speisemorcheln und Verpeln.
Übrigens kann ein Pilzfreund nur dann ein Pilzner werden, wenn er auf dem flachen Lande und weit ab vom nächsten Wald zu Hause ist. Schon der lange Anfahrtsweg voller gespannter Vorfreude prägt den Pilzner. Zumal er dabei beste Gelegenheit hat, sich über Natur, Wald, schlechte Pilze und gute Politik und umgekehrt immer wieder mit seinen Mitpilznern auszutauschen. Pilzner vertiefen und erweitern ihr Pilznertum gegenseitig. Das gilt natürlich auch unter solchen, die sich zufällig oder als Unbekannte am Wege treffen. Ihre Begeisterung für Pilze grenzt oft an Pilzbesessenheit. Das bringt selbst beim eigenbrötlerischen Waldschrat unter ihnen ein mykologisches Mitteilungsbedürfnis und die Begierde zum Ausbruch zu erfahren, wie und ob sich der Waldgang lohnt. Unterschiede in sozialer Stellung, Bildung und anderen gesellschaftlichen Bezügen gibt es nicht, wenn der Pilzner mit dem Pilzner ins Gespräch kommt. Dabei wird natürlich auch Pilznerlatein gesprochen.
Je ärmer eine Gegend an Fichten-, Kiefern- oder Buchenforsten ist, desto zahlreicher und aktiver sind ihre Pilzner. Eine solche waldarme Gegend, sogar die ausgedehnteste überhaupt, ist Leipzig mit seiner nahen und weiteren Umgebung. Das lehrt uns ein Blick auf die Deutschlandkarte. Damit hängt auch zusammen, dass der Pilzner keine Landes- oder Kreisgrenzen kennt. Jeder Pilzner ist dem anderen ein aufgeschlossener, mit Pilzen im Korb auch stolzer Gesprächspartner, egal aus welchem Bundesland er kommt. Wir sind Hessen und Schwaben im Wald begegnet, die wir aus der Stadt in Schlips und Kragen kannten. Nichts da im Wald von wegen Besserwessi! Der Pilzner pflegt keine Vorurteile und Klischees. Zum Beispiel finden die üblichen L-Vorbehalte gegenüber den miesen SK- und HAL-Fahrern unter Pilznern nicht statt: Der Autofahrer aus Leipzig sieht keine Gefahr im Autolenker aus dem anhaltinischen Saalkreis und aus Halle oder im Brandenburger Alleen-Flitzer und Thüringer Waldschleicher. Der Gedanke der Nachbarschaftlichkeit ist so gut ausgeprägt, dass die hoheitliche Bürokratie eigentlich schon einschreiten müsste.
Pilze sammeln oder suchen?
(Friedo gibt Strategie und Taktik des Pilzners preis)
Weder noch. Der Pilzner geht in die Pilze. In anderen europäischen Breitengraden jagt er Pilze. Hunting mushrooms, wie der Engländer sagt. Oder er fängt Pilze ein, wie es im isländischen Gletscherdialekt heißt. Was, wie allgemein in den nordischen Sprachen, die Anerkennung der Tatsache bedeutet, dass unsere Wald-, Wiesen- und Kellerpilze keinesfalls als rein pflanzliche Lebewesen angesehen werden. Das hat zur Konsequenz, dass der norwegische oder finnische Vegetarier im Prinzip keine Pilze essen soll. Der Volksglaube im Norden stellt den Großpilz in eine Reihe neben den schabernäckigen Troll und die schnell vorüberwehende Elfe. Im übrigen, unsere Altvorderen gingen ebenfalls auf die Pilzjagd, weil sie, so die Überlieferung, an der Jagd auf Wild nicht teilnehmen durften. Auch werden Pilze von Manchen geerntet. Wo bleibt aber da das Abenteuer? Oder gar gepflückt. Hocken wir uns denn wie die Kindlein in die Blumenwiese? Oder aufgestöbert wie die Trüffeln im französischen Périgord – was wir besser den Trüffelschweinen überlassen sollten. Zumal wir schon genug zu tun haben, uns über das Borstenvieh in unseren Kiefernwäldern zu ärgern.
Entschieden wichtiger als diese Frage sind doch die Antworten auf das Wo und Wann und auf das Warum und Warum-nicht, was wohl jeder Leser und auch der Beschauer der Bilderbücher über Pilze bestätigen wird. Zuvor aber muss für den Pilzfreund Klarheit herrschen, welcher Pilz genießbar und welcher giftig ist, versteht sich.
Beginnen wir mit dem Wo.
Am besten immer rechts versetzt hinter Hellmut! Und zwar je nach Geländeart zwei Schritte – Waldweg – bis zu zwölf Schritten – ausgedünnter älterer Baumbestand. Denn Hellmut hat von uns allen das beste Gespür, wo essbare Pilze stehen könnten. Dafür hat er ein beneidenswertes Bauchgefühl. Er hat aber auch eine ausgeprägte Blickfeldeinengung am rechten Auge, die nach außen gerichtet ist. Also rechts von ihm gehen, nicht links. Er übersieht die Pilze auf dieser Seite, auf die du mit größerer Wahrscheinlichkeit triffst als wenn du allein durch den Tann stolperst. Oder besser: Er sieht sie gar nicht erst. Und das nimmt er hin wie der Glatzkopf die fehlenden Haare, es beunruhigt ihn nicht. So wechseln wir uns rechterhand hinter ihm jeweils zu Beginn der Aktion und nach Rastpausen ab, was er wohlwollend akzeptiert. Steht er einmal nicht zur Verfügung, sind unsere Körbe regelmäßig weniger gut gefüllt.
Wer keinen Hellmut kennt oder selber kein Hellmut ist, wenn es in die Pilze geht, dem seien sämtliche Vorkommensmöglichkeiten als Standorte empfohlen, vorausgesetzt, es ist ein gutes Pilzjahr. Dann spannen sich die fruchttragenden Bodenhabitate vom durchnässten Quellwasserufer im Erzgebirge bis zum prasseltrockenen Sandweg in der Uckermark. Im Wald und auf der Heide. Auf Wiesen, Weiden, im Straßengraben und selbst auf asphaltierten Bürgersteigen.
Wir hatten es in den letzten Jahren aber mit miesen Pilzjahren zu tun. Da ist guter Rat teuer, und um den geht es ja hier. Also, geben wir uns bescheiden und halten uns mal ein solches Jahr mit geringem