Und noch eines. Im Gegensatz zu den üblichen Pilzbüchern haben wir uns ein anderes Aufgabenfeld abgesteckt. Wir weisen nicht speziell und systematisch aus, welche Pilze alle essbar und welche giftig sind und woran man das erkennen kann; greifen Sie dazu zu den dicken oder dünnen Bunten in Ihrem Bücherregal. Dafür bringen wir Ihnen einiges vom Hintergrund näher, vor dem unsere vier Pilzner ihrem Hobby nachgehen. Beispielsweise, was den Pilzner vom Pilzgänger unterscheidet und beide wiederum vom Pilznarren. Oder wie man für sich ein neues Pilzterrain erschließt, was man von den Wetterkapriolen halten soll und was genügend Pilze mit gesunden Waldbäumen zu tun haben. Und – wie bieten sich die Pilzgründe zwischen und neben Schwarzer und Weißer Elster, vor allem aber in der Dübener Heide, heute dar?
Landschaft mit Pilznern
(Friedo stellt Hellmut und die Gegend vor, in der er wirkt)
Es ist eine Landschaft im Norden von Sachsen. Ihre Ost-West-Breite durchziehen viele Flüsse und Flüsschen von der Elbe bis zur Saale im Sachsen-Anhaltinischen. Und alle Flussläufe tragen ein l in ihrem Namen, den flüssigsten aller Fließlaute; es fließt halt schon im Wort: Nach der Elbe die Mulde, die Pleiße, die Weiße Elster. Und dazwischen die Eula, die Gösel, die Luppe, die Nahle. Und wenn es nicht das l ist, dann der andere Fließlaut, nämlich das r wie in Parthe, Schnauder, Zschampert.
Die Häufung der fließenden Namen der wieder fischfreundlichen Flüsse und Flüsschen im Einzugsgebiet der Elbe ist wohl einmalig in unseren Breiten. Und doch erinnert dieser Landstrich westlich von Oschatz und Wurzen und östlich von Merseburg und Weißenfels, Leipziger Tieflandsbucht genannt, eher an ein Trockendock, nicht nur wegen des permanenten Niederschlagsdefizits. Noch, muss hinzugefügt werden, was Leipzig mit seinem Umland betrifft. Das war in früheren Zeiten, sagen wir bis zu Napoleon und einige Jahrhunderte davor und in ganz ferner Zeit, ein durch und durch nasses Sumpfland mit mächtiger Elster und reißender Pleiße. Das Wörtchen „noch“ verlangt aktuell aber nach seinem Gegenpart: Schon wird das letzte große Tagebau-Restloch geflutet. Und dann ist Leipzig geografischer Mittelpunkt vieler großer Seen im Süden, Westen und Norden. Und endlich nicht mehr inselhafter Schonplatz inmitten hässlicher, stinkender, dreckiger Braunkohlelöcher, aktiver und übriggebliebener. Die Umgebung der Stadt wird wie zu ihrem Beginn ein wasserdurchädertes, dazu noch von Seen umschlossenes Stück Erde.
Während also von unseren Vorfahren das l vorrangig den Flüssen und deren Landschaften verliehen wurde, lebten die ersten Bewohner rechtschaffen in ihren Gehöften und Ansiedlungen. Deren heutige Gemeinden haben den eleganten Selbstlaut ö in ihrem Namen. Beispielweise ist jeder zweite Ortsname im Süden und Südosten der Großstadt durch seine ö-Lautung geprägt. Und ausgerechnet Gemeinden mit dem bevorzugten Gesangslaut sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hart gestraft worden. Dort hatte man für die wirtschaftlichen Fehlleistungen und Mangelaufkommen im Diktatsgebiet des Proletariats unter der ruhmreichen Führung der beiden Handwerkergesellen am härtesten zu büßen. So Mölbis, in Fauchweite des Schwefel und Ammoniak speienden Chemiedrachens von Espenhain gelegen. Selbst an sonnenklaren Tagen mussten oft Fackeln den Straßenverlauf markieren, Hauterkrankungen häuften sich vor allem bei Kindern, Pflanzen gingen ein und starben ab. Mölbis, das bis 1990 wohl am stärksten verschmutzte Dorf Europas, ist heute eine blitzblanke Gemeinde mit stolzen Neusiedlern. Oder nehmen wir Rötha, das Nachbarstädtchen eines Chemiegiganten und Kohlekraftwerkes, dessen berühmte Silbermannorgeln in den beiden Kirchen zu schweigen begannen. Zu schweigen begannen, als ihre Blasebälge von der Orgellungen-Tbc zerfressen zu werden drohten, sagt man; heute ist Rötha ein schmucker Ort, der den täglichen Einfall von Schwefel-, Kohlenstoff- und andere Erstickungsdioxiden, dennoch – fast – unbeschadet überstanden hat. Böhlen, eine großchemiegeplagte, fleißige Aschenputtelgemeinde, von deren Industrieabwässern die Pleiße ihr liebstes Reimwort bezog, ist heute eine ruhige und bescheidene Ortschaft, in der, wie woanders auch, die toten Fenster in den aufgefrischten Häusern und nicht mehr die Atemwegserkrankungen ständig zunehmen. Dann gibt es noch Löbschütz, Pötzschau, Großzössen, Oelzschau, Köhra, Großpösna und weitere Ö-Gemeinden.
„Und blöde und störrisch und nörgeln und dösen“, fügte Hellmut hinzu, als während einer Pilzwanderung die Rede auf das Ö kam.
„Und schön und fröhlich und versöhnen“, konterte Gerda.
Als Mann der Buchstaben nahm ich es gelassen, wusste ich doch, dass Hellmut ein Mann der Zahlen war. Hellmut hielt es eben lieber mit berechenbaren Fakten, statistischen Werten und abgesicherten Erfahrungen, was ihm als alten Mathematiklehrer auch gut zu Gesicht stand. Jeder von seinen Mitpilznern profitierte von den Ergebnissen seiner Überlegungen. Wenn es nämlich an die Absprachen zum gemeinsamen Hobby ging, wann die nächste Fahrt in welche Pilzgegend führen sollte. Er war der Älteste von uns Vieren, die in wechselnder Besetzung vom späten Frühjahr an bis zum allerletzten Ende der Saison durch die Wälder streiften. Die Mühe, die ihm das Laufen bereitete – er hatte ein steifes linkes Knie –, war ihm nicht anzumerken, sobald er Waldboden betrat. Den Gehstock, den ihm der Arzt verschrieben hatte, gebrauchte er nur einmal, um ihn in die Besenkammer zu stellen. Ursprünglich war Hellmut Pilzgänger im Erzgebirge, wo er seine Jugend verbrachte, ehe er zum Pilzner wurde. Es waren auch andere Zeiten nach dem Kriege. Damit seine Geschwister weniger zu hungern brauchten, machte er, der schon zur Schule ging, sich mehrmals in der Woche auf, die Früchte des Waldes zu holen. Einmal, es war ein regenarmer Sommer und ein noch trockenerer Herbst, sprach die Mutter den Vorwurf aus, den er einige Male schon in ihren Augen gesehen hatte. Er nehme mehr Essbares mit in den Wald als aus dem Wald nach Hause. Während und nachdem sie das sagte, flossen die Tränen, bei der Mutter und beim Sohn. Auch noch, als sie sich aus ihrer Umarmung gelöst hatten.
Pilzgänger ist man in schweren Zeiten, wenn es am Nötigsten mangelt. Wenn die Marone das Fleisch, der Pfifferling das Gemüse und der Pfeffer-Röhrling die Würze ist. Dann geht man allein hinaus und hütet sich gesehen zu werden. Wegen der guten Weidegründe, nach denen auch Andere aus dem Dorfe unterwegs sind. Heute ist man Freund der Pilze aus ganz anderen Motiven heraus. Und damit ist man mit anderen Pilznern locker vergesellschaftet, wie es der Mykologe sagen würde.
Hellmut bewahrte seine Achtung vor dem Wald und sein Interesse an allem, was dort wächst, läuft und fliegt, über all die Jahre hinweg, da er als Lehrer und Dozent von der Großstadt festgehalten wurde. Seiner Liebe zur Natur und zur heimatlichen Landschaft tat es keinen Abbruch. Im Gegenteil. Er wurde aktiver, je schneller die Fichten im Erzgebirge eingingen. Die Stasi legte einen weiteren „Vorgang“ über ihn an, also eine zweite Akte, nachdem er 1984 eine Staatsratseingabe gemacht hatte. Er wies darin exakt nach, dass das Erzgebirge das in seiner Längenausdehnung größte umweltgeschädigte Gebiet der Erde ist. Und wann die zuständigen Ministerien und auch die gewählten Volksvertreter endlich konkrete Maßnahmen gegen das Waldsterben einleiten würden. Darauf hin kam es zu einem Treffen mit dem Stellvertreter des Ministers für Landwirtschaft, er wies sich jedenfalls so aus. Das Treffen fand auf einer Parkbank in den Grünanlagen vor dem Hauptbahnhof in Leipzig statt. Nicht, dass eine schriftliche Antwort gegeben worden wäre, wie es das Eingabengesetz vorsah. Im Vorfeld zu dieser Angelegenheit konnte auch über die Partei nichts abgeblockt werden. Und das Zimmer des Parteisekretärs stand den Parteilosen nur offen, wenn die Partei etwas von ihnen wollte. Hellmut war lediglich Mitglied des Kulturbundes.
Das Ergebnis: „Im Prinzip mag das so stimmen. Uns sind aber die Hände gebunden ... Und im Vertrauen auf Partei und Regierung werden die Werktätigen der DDR ...“
Kurz danach fand Hellmut heraus, dass die Energie von zwei Braunkohlebriketts notwendig ist, um bestenfalls drei Briketts herzustellen. Mit diesem Energiesatz arbeiteten auch die Entwicklungsingenieure, Bergbau- und Kraftwerkstechniker, weniger aber die Funktionäre der SED, die willkürlich ein ökonomisch besseres Verhältnis ansetzten