Als er merkte, dass niemand seinen Befehlen gehorchte, nahm der Rattengesichtige schließlich selbst die Verfolgung auf, doch hatten Miranya und ihr unsichtbarer Begleiter bis dahin bereits einen beträchtlichen Vorsprung. Sie tauchten in das dichte Buschwerk ein.
"Lauf noch ein Stück weiter und warte dann auf mich!", befahl der Unbekannte. "Ich halte ihn auf."
Er ließ ihren Arm los. Wie er es ihr aufgetragen hatte, lief Miranya weiter. Zwischen den Sträuchern lag nicht so viel Schnee, als dass es deutliche Spuren gegeben hätte, außerdem ließ sie bei jeder Berührung der Zweige hinter sich so viel Schnee herabwirbeln, dass dieser ihre Abdrücke sofort wieder verdeckte.
Sie bekam nicht genug Luft für die Anstrengung, aber immerhin hatte sie jetzt die Hände frei. Während des Laufens zerrte Miranya den Knebel aus dem Mund, schleuderte ihn zur Seite und genoss es, wieder frei durchatmen zu können.
Hinter sich hörte sie einen Schlag, dem ein Schmerzenslaut und gleich darauf ein dumpfer Fall folgten. Wenige Sekunden später trat ein ihr unbekannter Mann aus dem Unterholz. Er besaß eine vage Ähnlichkeit mit Kenran'Del, doch war er nicht ganz so groß und kräftig. Außerdem wirkte sein Gesicht feiner und ausdrucksstärker. Kleine Fältchen um seinen Mund und seine Augen und zwei Grübchen an seinen Wangen verrieten, dass er gerne lachte, doch in seinen braunen Augen, die durch die langen, seidigen Wimpern noch betont wurden, stand auch der Ausdruck eines tief in ihm verborgenen Schmerzes geschrieben; eine Melancholie und Traurigkeit, die sie auf sonderbare Weise anrührten. Sein Alter war schwer zu schätzen. Er mochte Anfang dreißig sein, vielleicht einige Jahre jünger, vielleicht älter.
Mit Schrecken registrierte Miranya, dass sie ihn selbst jetzt mental nicht spüren konnte, obwohl sie ihn sah. Er war in dieser Hinsicht so stumm, als gäbe es ihn gar nicht, eine gänzlich fremde und unangenehme Erfahrung für sie. Aber auf jeden Fall hatte er ihr erst die Flucht ermöglicht und sie damit gerettet, also stand er wohl auf ihrer Seite. Dann sah sie, dass im linken Ärmel seines Mantels ein Loch klaffte. Die Ränder waren blutverschmiert, und jetzt erinnerte sie sich auch wieder, dass der Rattengesichtige ihn mit seinem Schwert angegriffen hatte.
"Du bist verwundet", stieß sie hervor und griff nach seinem Arm, um nach der Wunde zu sehen, doch er entzog sich ihr.
"Das ist nur ein kleiner Kratzer", behauptete er. "Darum können wir uns später kümmern. Jetzt müssen wir erst einmal weg von hier, bevor diese Kerle sich von ihrem Schrecken erholt haben und sich an die Verfolgung machen. Noch ein Stückchen weiter, dort warten zwei Pferde auf uns."
"Dann sag mir wenigstens, wie du heißt", verlangte Miranya. "Immerhin hast du mir das Leben gerettet. Diese Kerle wollten mich gar nicht austauschen. Sie hätten mich getötet, sobald sie Kenran'Del in ihrer Gewalt gehabt hätten."
"Ich weiß", erklärte der Fremde. "Maziroc und ich dachten uns bereits, dass irgendetwas an der Sache faul wäre. Deshalb habe ich mich unsichtbar schon vor der Ankunft deiner Entführer in der Mühe versteckt und dort einige Vorbereitungen getroffen. Anschließend habe ich sie unbemerkt belauscht und konnte mir anhand dessen zusammenreimen, was sie vorhatten."
"Dann kannst du dich wirklich unsichtbar machen?"
"Nicht aus eigener Kraft, aber ich besitze so etwas wie eine Tarnkappe."
Von der Seite her warf Miranya ihm einen verständnislosen Blick zu.
"Du und Maziroc, ihr würdet es wohl als eine Art Skiil bezeichnen."
"Dann musst du ein äußerst mächtiger Magier sein", sagte Miranya staunend. "Trotzdem hat Maziroc dich bislang nicht erwähnt. Kennst du ihn schon länger?"
"So könnte man es wohl nennen", erwiderte der Mann mit eigentümlicher Betonung. Als Miranya ihn anblickte, sah sie, dass er grinste. "Seit ungefähr tausend Jahren, wie ich mittlerweile erfahren habe, auch wenn ich den allergrößten Teil dieser Zeit verschlafen habe. Wesentlich mehr, als ich eigentlich geplant hatte. Diese Kerle waren hinter mir her. Ich bin Kenran'Del. Der echte."
Drachenflug
Trotz des wenigen Schlafs, den er in der vergangenen Nacht gehabt hatte, blieb Maziroc auch an diesem Abend in Ravenhorst noch lange wach und harrte zusammen mit den Zwergen der Rückkehr der übrigen Drachen und ihrer Reiter, doch sie warteten vergebens. Nicht ein einziger der vier noch vermissten Drachen kehrte zurück, und als schließlich Mitternacht verstrich, schwanden auch die Hoffnungen der größten Optimisten unter den Zwergen. Einer der Späher war sogar in die Nähe von Ai'Lith geschickt worden, um die Umgebung im Umfeld der Hohen Festung der Elben auszukundschaften, doch auch er blieb verschollen, und das bereitete Maziroc besonders große Sorgen. Entweder hatten die geflügelten Damonen die Späher bereits kurz nach ihrem Aufbruch aus Ravenhorst abgefangen und getötet, oder sie waren innerhalb der letzten Tage bereits sehr viel weiter vorgerückt und hatten größere Teile Arcanas unter ihre Kontrolle gebracht, als er in seinen schrecklichsten Alpträumen für möglich gehalten hatte.
Wenn sie sich wirklich geteilt hatten, und ihr einer Heerzug hatte bereits fast die Todessümpfe erreicht, dann war es auch durchaus möglich, dass der übrige Teil ihrer Armee Ai'Lith bereits in den nächsten Tagen erreichen würde. Die Hohe Festung der Elben stellte das letzte Bollwerk dar, das den Einfall der Damonen in die Westländer noch verhindern konnte. Möglicherweise aber waren sie dort sogar schon eingedrungen, wenn sie Ai'Lith einfach umgangen hatten, statt zu riskieren, in einem langen, blutigen Kampf um die Elbenfestung zu unterliegen und zurückgeworfen zu werden.
Am späten Abend fanden sich die Zwergenkönige erneut zu einer Krisenberatung zusammen. Als König der Krieger wurden Borrus angesichts der Bedrohung weitreichende Vollmachten erteilt. Auf seinen Befehl hin wurden sofort sämtliche Vorkehrungen für eine möglichst erfolgreiche Verteidigung Ravenhorsts im Fall eines Angriffs durch die Damonen getroffen.
Maziroc erfuhr lediglich durch Garwin davon. Da es sich bei diesen Verteidigungsvorbereitungen um geheime Angelegenheiten handelte, die nur das Zwergenvolk betrafen, hatte man ihn nicht gebeten, an der Sitzung teilzunehmen, und er hätte auch kein Interesse daran gehabt. Nach normalen Maßstäben war Ravenhorst unmöglich einzunehmen. Wer immer es versuchen würde, würde jeden eroberten Fußbreit Boden schon in den Sümpfen mit einem unvorstellbaren Blutzoll bezahlen. Er bezweifelte, dass selbst die Damonen sich solche Verluste leisten konnten. Sollten sie sich tatsächlich auf ein so selbstmörderisches Unterfangen einlassen, würde ihr Heer aufgerieben werden und keine Gefahr für die ungleich weniger geschützten Städte im übrigen Miirn mehr darstellen.
Ähnliches galt auch für Ai'Lith, wohin sich Mazirocs Gedanken immer wieder verirrten. Sollten die Damonen die Hohe Festung angreifen, so verschaffte jeder Tag, an dem sie gegen die unbezwingbaren Mauern anstürmten, Eibon und vor allem Charalon mehr Zeit, ihre Verteidigungsallianz zu schmieden, neue Truppen auszuheben und zusammenzuführen, um Larquina und die übrigen Westländer zu schützen.
Dennoch beruhigte dieser Gedanke Maziroc nicht, und als er sich gegen Mitternacht in seinem Quartier zur Ruhe begab, lag er trotz seiner Müdigkeit auch in dieser Nacht wiederum noch lange wach. Eine Mischung aus Sorge über das, was