Man hatte Miranya die Fußkette gelöst und ihr einen Mantel übergezogen, ihr dann jedoch die Hände wieder gefesselt, ihr die Augen verbunden und ihr außerdem einen Knebel in den Mund gesteckt, als man sie abholte und sie erstmals seit ihrer Entführung ihre Zelle wieder verließ. Den Knebel sah sie ein, immerhin mussten die Caer-Sharuun verhindern, dass sie um Hilfe schrie oder Maziroc und Kenran'Del warnte und den Plan dadurch auffliegen ließ. Warum man ihr jedoch die Augen verband, blieb ihr schleierhaft. Wenn alles wie von Scruul geplant verlief, würde sie ohnehin sterben, und anderenfalls würde sie auch nicht viel mehr als seine Beteiligung an dem Komplott verraten können. Aber vielleicht hatte man sie nicht einfach nur in irgendeinem beliebigen Haus festgehalten, sondern es handelte sich um einen wichtigen Stützpunkt, dessen genaue Lage man unbedingt geheim halten wollte.
Sie musste durch zwei Räume gehen, dann eine Treppe hinauf und durch einen weiteren Raum oder einen Korridor, ehe eine Tür vor ihr geöffnet wurde und sie ins Freie trat. Nach dem tagelangen Aufenthalt in der fensterlosen Zelle war die frische, kalte Nachtluft, die ihr entgegenschlug, die reinste Wohltat, und sie atmete ein paarmal tief durch die Nase ein.
Ihr Vorhaben, sich den Weg einigermaßen einzuprägen, musste sie direkt darauf schon aufgeben. Der vereinbarte Treffpunkt befand sich vermutlich in einem abgelegenen Teil der Stadt oder sogar außerhalb, aber es hätte sicherlich Aufsehen erregt, wenn eine gefesselte, geknebelte Frau mit verbundenen Augen durch die Straßen geführt worden wäre. Stattdessen brauchte sie nur wenige Schritte im Freien zu gehen und musste dann in eine Kutsche steigen. Außer ihr stiegen drei weitere Personen ein, dann setzte sich das Gefährt rumpelnd in Bewegung.
Die Fahrt führte über unebenes Kopfsteinpflaster, und immer wieder bog die Kutsche nach rechts oder links ab, sodass Miranya schon nach kurzer Zeit gänzlich die Orientierung verloren hatte. Die ganze Zeit über wechselten ihre Begleiter kein Wort miteinander. Es war kalt in der Kutsche, und da sie keinen Mantel trug, fror Miranya erbärmlich.
Nach mehr als einer halben Stunde schließlich hörte das Pflaster auf und wich einem mit Schlaglöchern und Baumwurzeln übersäten Weg. Offenbar hatten sie Therion verlassen. Sie zuckte zusammen, als sie plötzlich eine Berührung am Kopf spürte, doch zu ihrer Überraschung nahm man ihr lediglich die Augenbinde ab.
Miranya warf einen Blick aus dem Fenster. Sie hatte sich nicht getäuscht, sie hatten die Stadt tatsächlich bereits verlassen. Außer schneebedeckten Büschen und Bäumen war nichts zu sehen, allerdings war es noch nicht so spät, wie sie gedacht hatte. Die Dämmerung hatte gerade erst eingesetzt. Sie wandte sich den drei Männern zu, die mit ihr in der Kutsche saßen, doch konnte sie auch jetzt ihre Gesichter nicht erkennen, da sie sich Tücher um ihre Köpfe gewickelt hatten, die nur schmale Schlitze für die Augen freiließen.
Nach einigen Minuten bog die Kutsche in einen anderen, noch schmaleren Weg ein, der fast nur noch aus Schlaglöchern zu bestehen schien. Sie wurden ordentlich durchgeschüttelt, und zweimal wäre Miranya, die sich mit den gefesselten Händen nirgendwo festhalten konnte, fast von ihrem Sitz zu Boden geschleudert worden, ehe sie schließlich vor einer heruntergekommenen, ehemaligen Mühle hielten. Ein gefrorener Bach schlängelte sich daran vorbei. Von dem Mühlrad waren nur noch Trümmer übrig, und im Dach das Hauses klafften gewaltige Löcher. Von allen Ecken und Kanten hingen lange Eiszapfen herunter.
Unter anderen Umständen hätte das halb verfallene Gemäuer inmitten der dick verschneiten Winterlandschaft vermutlich einen überaus romantischen Anblick geboten, doch so hatte Miranya keinen Blick dafür übrig. Auf einen entsprechenden Befehl hin stieg sie gemeinsam mit ihren Bewachern aus der Kutsche aus. Hier im Freien, wo es noch kälter war, fror sie in ihrem dünnen Gewand erbärmlich.
Aufmerksam blickte sie sich um. Von Maziroc oder gar dem geheimnisvollen Kenran'Del war noch nichts zu entdecken, doch dafür traten nun mehrere weitere Männer aus dem Haus, die ihre Gesichter gleichfalls hinter Tüchern verborgen hatten.
"Ist alles in Ordnung?", erkundigte sich einer ihrer Begleiter. Miranya war sich nicht ganz sicher, aber der Stimme nach könnte es der Rattengesichtige aus dem Gasthaus sein.
"Alles okay", erwiderte einer der anderen Männer. "Wir warten schon den ganzen Nachmittag. Niemand hat versucht, sich der Mühle auch nur zu nähern."
"Gut. Ich möchte keine unliebsamen Überraschungen erleben", sagte der Rattengesichtige. Trotz seiner Maske war Miranya sich mittlerweile fast sicher, dass es sich um ihn handelte. Er wandte sich ihr zu. "Vorwärts!", befahl er und versetzte ihr einen derben Stoß, der sie fast in den Schnee geschleudert hätte. Nur mit Mühe konnte sie mit den gefesselten Armen das Gleichgewicht halten.
Sie gingen auf die Mühle zu und traten ein. Das Gemäuer musste schon sehr lange leer stehen. An mehreren Stellen war die Decke herabgebrochen, Schutt und Geröll bedeckten den Fußboden, dazwischen waren noch vereinzelt die Überreste alter Möbel zu sehen, die von den früheren Bewohnern zurückgelassen worden waren.
Auf einen Befehl des Rattengesichtigen hin stieg einer der Männer vorsichtig eine altersschwache Holztreppe hinauf. Er hatte sich einen Bogen um die Schulter gehängt, und Miranya konnte sich vorstellen, was er damit vorhatte. Von den Fenstern im Obergeschoss aus hatte er ein hervorragendes Sichtfeld auf den freien Platz vor der Mühle. Sobald sich Kenran'Del in der Hand seiner Begleiter befand und sie freigelassen wurde, würde er von dort oben aus den tödlichen Pfeil auf sie abschießen.
"Kannst du dir denken, was seine Aufgabe sein wird?", fragte der Rattengesichtige. Trotz seiner Maske meinte Miranya sehen zu können, wie sich sein Gesicht zu einer höhnischen Grimasse verzerrte. "Er sorgt dafür, dass alles genau wie geplant verläuft. Alles, verstehst du? Du hast deine Chance gehabt, dein Leben zu retten. Jetzt ist es zu spät."
Da sie aufgrund des Knebels ohnehin nicht antworten konnte, beschränkte Miranya sich darauf, ihn nur zornig und voller Verachtung mit den Augen anzufunkeln und sich nicht anmerken zu lassen, wie groß die Angst war, die sie inzwischen empfand.
Nach einigen Sekunden packte der Mann sie grob am Arm und zerrte sie auf eine Tür zu, dann versetzte er ihr abermals einen Stoß, der sie in den dahinterliegenden Raum taumeln ließ.
"Dein Hochmut wird dir schon noch vergehen", zischte er. "Weißt du was? Ich freue mich sogar richtig darüber, dass du Scruuls Angebot ausgeschlagen hast. Am liebsten würde ich dich sogar eigenhändig töten. Schade nur, dass Scruul uns ausdrücklich verboten hat, uns vorher noch ein bisschen mit dir zu amüsieren."
Lüstern ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern, und Miranya fühlte sich fast wie von unsichtbaren Händen begrapscht. Angeekelt wich sie zurück. Lachend schlug Rattengesicht, wie sie den Mann für sich selbst getauft hatte, die Tür zu und schob von der anderen Seite einen Riegel vor.
Als sie allein war, trat Miranya wütend mit dem Fuß gegen eine Wand, um sich abzureagieren, dann erst blickte sie sich um. Der Raum, in den man sie gesperrt hatte, durchmaß nur wenige Schritte und war völlig leer. Es war nicht ganz dunkel, durch ein kleines Fenster dicht unter der Decke, viel zu hoch und zu klein, als dass sie dadurch hätte fliehen können, fiel etwas Licht herein. Zwar war die Sonne längst untergegangen, doch dafür schien der Mond hell und fast voll vom Himmel herab.
Mit dem Rücken an eine Wand gelehnt, ließ Miranya sich auf den Boden sinken. Sollte ihr Leben wirklich an diesem Abend hier an diesem abgelegenen, von allen Göttern verlassenen Ort in einem Land, das sie noch nie zuvor betreten hatte, enden? Bis zuletzt hatte sie nicht wirklich geglaubt, dass ihr etwas passieren würde, auch wenn es nur eine Mischung aus Zweckoptimismus und jugendlicher Unbeschwertheit gewesen war, alles Unangenehme einfach zu verdrängen. Sie war nicht davon ausgegangen, dass Scruul nur bluffte, doch hatte sie unterschwellig darauf vertraut, dass irgendein Wunder geschehen und sie gerettet würde, einfach deshalb, weil sie sich nicht vorstellen konnte zu sterben. Sie war noch viel zu jung dafür und sie wollte es nicht, und allein schon deshalb durfte und konnte es einfach unmöglich dazu kommen.
Nun jedoch sickerte nach und nach die Erkenntnis in ihr Bewusstsein, dass