Pollus stieß einen entsetzten Schrei aus, und auch Maziroc klammerte sich starr vor Schrecken an die Halteschlaufen, doch der Moment der Furcht dauerte nicht mehr als ein, zwei Sekunden. Nach kaum einem halben Dutzend Meter Fall fing sich genügend Wind unter den riesigen Schwingen der Echse, um den Sturz in ein sanftes Gleiten übergehen zu lassen. Mit einem weiteren Flügelschlag katapultierte sich das Tier wieder nach oben, stieg bis über die Höhe des Ashran und schien dann geradewegs zum Himmel emporzuschießen.
Allmählich entspannte Maziroc sich und ließ kurz darauf auch die Griffe los. Der Flug des Drachen war so sanft, dass selbst während der gelegentlichen Flügelschläge kaum Bewegungen zu spüren waren. Fast schwerelos schien er auf seinen gewaltigen Schwingen dahinzugleiten, nutzte mehr das Spiel von Auftrieb und Fallwinden, als dass er mit den Flügeln schlug.
Höher und höher stieg der Drache, sodass die Welt unter ihnen immer kleiner zu werden schien. Schon jetzt waren Ravenhorst und der Ashran nur noch ein kleiner Punkt inmitten der Todessümpfe. Kurze Zeit später bereits überflogen sie die morastige Ostküste des großen Binnenmeeres, und dann erstreckte sich in jeder Himmelsrichtung schließlich nur noch Wasser unter ihnen, soweit der Blick auch reichte.
Das Binnenmeer war gewaltig. Es teilte Arcana in die östlichen und die westlichen Länder, und es war auch dafür verantwortlich, dass jeder Reisende sich entscheiden musste, ob er eine nördliche oder südliche Route einschlug, je nachdem, welchen Weg er wählte, es zu umgehen. Trotz seiner Größe gab es auf dem Binnenmeer keine Schifffahrt, was an der Beschaffenheit der Küste lag. Im Osten und im Süden ging das Meer direkt in die Sümpfe über, und das Ufer war zu morastig, als dass dort Schiffe anlegen könnten. Im Westen und Norden hingegen bestand es größtenteils aus Steinklippen, und wo die Küste einigermaßen flach war, da lauerten dicht vor dem Ufer gefährliche, scharfe Riffe, die den Rumpf jedes Bootes aufschlitzen würden.
So aufregend der Flug während der ersten Minuten war, wurde Maziroc es schon bald leid, auf die schier endlose Wasserfläche zu starren, die sich tief unter ihnen ausbreitete. Mit dem Rücken gegen das Geländer gelehnt, setzte er sich auf den Boden des Transportkorbes. Hier war er auch dem scharfen Flugwind nicht so stark ausgesetzt, der ihm zuletzt die Tränen in die Augen getrieben und jede Unterhaltung unmöglich gemacht hatte.
Bald darauf setzte sich auch Pollus zu ihm. Seine Augen tränten ebenfalls, doch schien ihm das nichts auszumachen.
"Ist das nicht fantastisch?", schwärmte er mit geradezu kindlicher Begeisterung in der Stimme. "Wir fliegen, wir fliegen wirklich. Es ist fast so, als ob wir selber Flügel hätten."
"Na ja, nicht ganz", schränkte Maziroc schmunzelnd ein. Obwohl es unter ihnen zurzeit nicht viel zu sehen gab, und der Wind über der Brüstung alles andere als angenehm war, stellte diese Reise auch für ihn ein besonderes Erlebnis dar, und Pollus' ungebändigte Freude mitzuerleben, steigerte das Vergnügen für ihn noch zusätzlich.
"Als Kind habe ich oft davon geträumt", sprach der Soldat weiter. "Aber meine Eltern hatten dafür keinerlei Verständnis. Sie sagten immer nur, dass die Götter uns mit Flügeln erschaffen hätten, wenn sie wollten, dass wir flögen. Aber da dies nun mal nicht der Fall war, würde sich nie ein Mensch weiter in die Luft erheben, als er springen könnte. Ich wünschte, sie könnten mich jetzt sehen."
"Manchmal sind die Wege der Götter sehr verschlungen und undurchsichtig", antwortete Maziroc. "Manchmal aber muss man ihnen vielleicht erst auf die Sprünge helfen, und gelegentlich denke ich fast, dass sie mancher Fortentwicklung geradezu im Wege stehen. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Mensch noch zu vielem, vielem mehr fähig ist, wovon jetzt noch kaum jemand zu träumen wagt."
Pollus blickte ihn einen Moment irritiert an, sichtlich verwirrt durch diese Blasphemie, doch er verzichtete darauf, das Thema weiter zu verfolgen.
Auch Maziroc verspürte wenig Lust, sich zu unterhalten. Gedankenverloren starrte er in den blauen, nur von wenigen weißen Wölkchen bedeckten Himmel über sich, dem er nahe wie nie zuvor war.
*
Um die Mittagsstunde, kurz nachdem sie das Binnenmeer endlich hinter sich gelassen hatten, legten sie eine Rast ein. Marrin bestand darauf, da ein so langer Flug ohne eine Pause angeblich für den Drachen zu anstrengend wäre. Es fiel Maziroc schwer zu glauben, dass es irgendetwas gäbe, was für ein so gewaltiges Tier zu mühsam war, schon gar nicht ein einfacher Flug bei so mildem Wetter. In Wahrheit war es wohl eher dem Zwerg auf seinem Sitz am Hals des Drachen zu unbequem geworden, und er wollte sich ein Weilchen die Füße vertreten.
Der Drache ging auf einer großen Wiese nieder, wobei die Landung ebenso sanft wie der Abflug vonstatten ging. Ein klarer Bach, an dem sie ihren Durst stillen konnten, schlängelte sich durch die Wiese. Gerne hätte Maziroc die Gelegenheit genutzt, sich ein wenig mit Marrin zu unterhalten, doch da der Zwerg sich aus ihm unbekannten Gründen demonstrativ von ihnen absonderte, respektierte er dies.
Nach etwa einer halben Stunde setzten sie ihren Flug fort. Da es diesmal keine Klippe gab, von der er sich stürzen konnte, lief der Drache auf seinen kurzen Stummelbeinen immer schneller quer über die Wiese und bewegte dazu seine Flügel, bis er sich schließlich vom Boden löste und mit weiteren Flügelschlägen erneut zum Himmel emporstieg.
Bald darauf sichteten sie zum ersten Mal Damonen. Es handelte sich nur um wenige Dutzend der Ungeheuer, aber es sollte nicht die einzige Begegnung bleiben. Immer häufiger entdeckten sie von nun an die fremden Invasoren. Es schien, als ob ungeheuere Massen von ihnen in Trupps von völlig unterschiedlicher Größe von den südlichen Barbarenländern aus, wo sich die Weltenbresche befinden sollte, nach Nordwesten ziehen würden. Obwohl er sich in diesem Fall viel lieber geirrt hätte, sah Maziroc seinen schlimmsten Verdacht bestätigt, dass die Damonen zahlenmäßig so stark waren, dass sie sich aufteilen und unterschiedliche Ziele in verschiedenen Teilen des Kontinents gleichzeitig angreifen konnten.
"Sie ziehen direkt auf das Largos-Gebirge zu. Nach Ai'Lith!", stellte Pollus fest u leckte sich nervös über die Lippen. Der Flugwind riss ihm die Worte von den Lippen. Er musste schrien, damit Maziroc ihn verstand, obwohl er direkt neben ihm stand.
Der Magier nickte. Wenigstens schienen die Damonen die Hohe Festung noch nicht erreicht zu haben. Anscheinend waren sie nicht in gerader, direkter Linie vorgerückt, sondern hatten auf ihrem Weg stets nach Zielen gesucht, die sie überfallen konnten.
Glücklicherweise befanden sich offenbar nur wenige geflügelte Damonen bei den Heerzügen, denn diese bildeten für sie momentan die größte Gefahr. Lediglich ein knappes Dutzend von ihnen stieg von einem der Trupps auf und jagte auf den Drachen zu. Hastig griff Marrin nach seiner Armbrust. Er traf zwei der Damonen, und obwohl die Geschosse sie nicht töteten, wurden die Ungeheuer merklich langsamer und blieben hinter den anderen zurück. Noch ein drittes Mal schoss er, doch diesmal verfehlte der Bolzen sein Ziel.
Gleich darauf waren die übrigen heran, finstere, horngeschuppte Bestien mit nachtschwarzen Schwingen, gefährlichen Krallen und scharfen Zähnen.
Marrin legte die Armbrust zur Seite und griff stattdessen nach seiner Streitaxt, während Maziroc und Pollus ihre Schwerter zogen. Ihre wirksamste Waffe aber war der Drache selbst, auf dem sie flogen. Auch ohne dass Marrin ihn durch Berührung des Nervenpunktes steuerte, wusste das Tier, was zu tun war. Blitzschnell zuckte es mit seinem Kopf herum, ohne dass es dabei jedoch den Zwerg von seinem Hals herunterschleuderte oder sich die heftige Bewegung auf den Rest seines Leibes und damit auch den Transportkorb übertrug. Sein gewaltiges Maul klaffte auf und schnappte gleich darauf wieder zu, und seine Fangzähne zermalmten einen der Damonen, der unvorsichtigerweise in seine Reichweite gelangt war. Einen zweiten traf er mit einem Hieb seines Schwanzes und zwei weitere fegte er durch wilde Schläge mit seinen Schwingen aus