Die Regulierungsagenda wurde in zwei weiteren Gipfelerklärungen im Jahr 2010 weiterentwickelt.608 In der Gipfelerklärung vom November 2011 wurde erstmals zwischen systemische Gefahren durch Banken bzw. Versicherungen, durch Schattenbanken und durch Marktaktivitäten unterschieden.609 Mit der Zeit verschob sich der Regulierungsfokus allerdings auf geldpolitische und makroökonomische Fragen.610 Die weiteren Gipfelerklärungen führten die bisherige Regulierungsagenda fort, ohne die bisherige Zielsetzung zu verändern.611 Dabei betonen die Gipfelerklärungen ab 2011 hauptsächlich das Ziel der Finanzmarktstabilität und der Bekämpfung der Ansammlung und Verlagerung von Risiken (insb. über OTC-Derivate). Zugrunde liegt offenbar die Einschätzung, dass die Weiterentwicklung der Regulierung insofern eine bleibende Herausforderung darstellt.
2. Konkretisierung durch internationale Organisationen
Die Beschlüsse in den Gipfelerklärungen der G 20 bedürfen zur Umsetzung einer weiteren Konkretisierung. Diese Konkretisierung erfolgt in einem gestuften System, an dem auf übernationaler Ebene weitere Institutionen bzw. Gremien beteiligt sind. Diese Gremien entwickeln Leitlinien und Empfehlungen, die zwar nicht unmittelbar rechtsverbindlich sind, aber die genannten Beschlüsse in ein in den einzelnen Rechtsordnungen umsetzbares Regelungsprogramm übertragen und diesbezüglich für die beteiligten Vertreter nationaler Aufsichtsbehörden, aber auch darüber hinaus eine mehr oder minder ausgeprägte (zumindest faktische) Bindungswirkung haben.612
In dem genannten System nimmt der Finanzstabilitätsrat (Financial Stability Board – FSB) eine gewisse Sonderstellung ein, denn dieses Gremium hat eine unmittelbar von den Gipfelbeschlüssen der G 20 abgeleitete Funktion. Der erst in der Finanzkrise (April 2009) geschaffene Finanzstabilitätsrat dient dazu, die Stabilität des Finanzsystems durch die Entwicklung strenger regulatorischer, aufsichtlicher und anderer auf den Finanzsektor bezogener Politiken zu fördern und zu einheitlichen Wettbewerbsbedingungen durch eine kohärente Politikumsetzung über Sektor- und rechtsordnungsspezifische Grenzen hinweg beizutragen.613 Der Finanzstabilitätsrat hat seit seiner Gründung vor allem die Aufgabe übernommen, Bereiche zu identifizieren, in denen die Finanzmarktregulierung Lücken aufweist, sodass es zum Aufbau systemischer Risiken kommen kann. Außerdem gibt er in den betreffenden Fällen Empfehlungen zur Verbesserung der Regulierung ab.
Als weitere Gremien sind auf internationaler Ebene mehrere bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich angesiedelte Ausschüsse für Banken und Zahlungsdienste zu nennen. Unter diesen ist vor allem der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht hervorzuheben, in dem Vertreter nationaler Aufsichtsbehörden und Notenbanken vertreten sind. Der Ausschuss soll speziell die Bankenaufsicht mit Blick auf die Regelungen, Verfahren und Bankpraktiken weltweit stärken und dadurch die Stabilität des Finanzsystems fördern.614 Dies tut der Ausschuss unter anderem durch den Austausch von Informationen, die Erarbeitung und Förderung von globalen Standards, Richtlinien und Praxisempfehlungen (z.B. zu Eigenkapital und Liquidität, sog. „Basel III“) und die Überwachung von Regulierung und Beaufsichtigung sowie der Marktentwicklung.615 Die Empfehlungen des Basler Ausschusses sind im vorliegenden Zusammenhang wegen der Bedeutung von Banken als Finanzintermediären relevant. Ergänzend wurde ein Basler Ausschuss für Zahlungs- und Marktinfrastrukturen geschaffen, der die Sicherheit und Effizienz von Zahlungen, Ausgleich (clearing), Abwicklung (settlement) zugehörigen Maßnahmen fördern und dadurch seinerseits zur Stabilität des Finanzsystems und zur Wirtschaftsentwicklung beitragen soll.616
Hinzu treten weitere Koordinationsgremien der nationalen Aufsichtsbehörden, unter denen hier vor allem die Internationalen Vereinigung der Wertpapieraufsichtsbehörden (International Organization of Securities Commissions – IOSCO) hervorzuheben ist. Diese hat die Aufgabe, zur Entwicklung der Märkte für Finanzinstrumente und der Verbesserung ihrer Effizienz beizutragen, die Rechtsdurchsetzung zu koordinieren und einheitliche Standards durchzusetzen.617 Je nach Sachzusammenhang entwickeln weitere aufsichtsbehördliche Gremien Leitlinien und Empfehlungen mit Blick auf den Handel mit Finanzinstrumenten (z.B. IAIS für Versicherungen).618
III. Supranationale und nationale Ebene (einzelne Rechtsordnungen)
Das Aufsichtsrecht auf EU-Ebene und in Deutschland wurde ausgehend von den G 20-Beschlüssen reformiert. Deshalb sind die genannten Schutzgüter auch für das hiesige Aufsichtsrecht maßgeblich. Hinzu treten weitere Schutzgüter des EU-Rechts und des nationalen Rechts (die allerdings zumeist Teilaspekte der G 20-Schutzgüter betreffen). Insbesondere hinsichtlich solcher Schutzgüter ist die Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten zu beachten, die dem nationalen Gesetzgeber im Bereich der Finanzmarktregulierung – zumindest im Grundsatz – nicht unerhebliche Spielräume belässt.619 Diese Spielräume sind allerdings, soweit der Regelungsgegenstand Binnenmarktrelevanz hat, durch die EU-Regulierung immer weiter verengt worden.
1. Europäische Union
a) Einführung: Problematik des Schutzguts
In Hinblick auf die EU besteht das grundlegende Problem, dass Schutzgüter der Finanzmarktaufsicht gar kein ausdrücklicher Gegenstand des Primärrechts sind.620 So ergibt sich aus Art. 3 Abs. 2 EUV lediglich, dass die EU einen Binnenmarkt errichtet, der unter anderem durch ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft geprägt sein soll. Diese Ziele gelten nicht nur für die Wirtschaftspolitik der EU selbst, sondern ebenso für die Wirtschaftspolitiken in den einzelnen Mitgliedstaaten (Art. 120, 121 Abs. 1 AEUV).
Das Aufsichtsrecht wird zwar als Regelungsbereich anerkannt (z.B. Art. 124 AEUV), bleibt nach dem Subsidiaritätsgrundsatz des Art. 4 Abs. 1 EUV aber grundsätzlich den Mitgliedstaaten zugewiesen. Auch das Europäische System der Zentralbanken soll grundsätzlich nur zu Maßnahmen „beitragen“, die von den zuständigen (nationalen) Behörden auf dem Gebiet der Aufsicht über die Kreditinstitute und der Stabilität des Finanzsystems ergriffen worden sind (Art. 127 AEUV).621 Der Rat kann der EZB in diesem Kontext zwar „besondere Aufgaben“ im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute und sonstige Finanzinstitute mit Ausnahme von Versicherungsunternehmen übertragen. Diese Ermächtigung ist im Zweifel aber restriktiv auszulegen.622 Sie dient dazu, den Umfang zu definieren, in dem die EZB neben ihren (vorrangigen) geldpolitischen Aufgaben auch mit Aufgaben einer institutionellen Aufsicht betraut werden kann.623 Darüber hinaus lässt sich aus ihr nichts zur Finanzmarktaufsicht und deren Funktionen in der EU ableiten. Das EU-Recht erkennt daneben im Beihilferecht durchaus an, dass die Mitgliedstaaten im Krisenfall etwa finanzielle Maßnahmen zur Rettung und Umstrukturierung von Banken ergreifen können und dass solche Beihilfen mit dem Ziel der Stabilisierung des Finanzsystems gerechtfertigt werden können.624 Diese Rechtfertigung ändert aber nichts daran, dass die Mitgliedstaaten damit ein grundsätzlich nur nach nationalem Recht relevantes Schutzziel verfolgen. Das EU-Recht schweigt folglich weitgehend zu aufsichtsrechtlichen Fragen.
Dem gegenüber steht die Erkenntnis, dass sich der Binnenmarkt ohne Gewährleistung der Stabilität des Finanzsystems seinerseits nicht erhalten bzw. weiter entwickeln lässt.625 Der EU-Gesetzgeber hat deshalb umfangreiche Regelungen in Form von Richtlinien und Verordnungen erlassen, die zumeist auf die Ermächtigungsgrundlagen zur Ausgestaltung der EU-Grundfreiheiten (Art. 53, 62 AEUV) und des Binnenmarktes (Art. 114 AEUV) gestützt sind.626 Dies gilt auch für die im weiteren Verlauf näher zu betrachtenden Regelungen mit Bezug auf Finanzinstrumente und den Handel mit ihnen.
b) Benennung einzelner Schutzgüter in EU-Rechtsakten
Die einzelnen im weiteren Verlauf relevanten EU-Rechtsakte beziehen sich in den Erwägungsgründen auf die Beschlüsse