568 Kap. 8 (S. 1033).
A. Einführung
I. Allgemeine Vorüberlegungen
In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, wann Markttätigkeiten im Zusammenhang mit Finanzinstrumenten einen aufsichtsrechtlichen Regelungsbedarf auslösen. Zu diesem Zweck wird die Perspektive des deutschen Rechts gewählt, aus der heraus die gesamte Arbeit verfasst ist. Eine Antwort auf die gestellte Frage setzt voraus, dass man sich Klarheit darüber verschafft, was das Finanzaufsichtsrecht als auf die Finanzmärkte bezogenes Ordnungsrecht überhaupt ausmacht (Abschn. II). Außerdem ist zu überlegen, ob das Finanzaufsichtsrecht gegenüber dem sonstigen Ordnungsrecht besondere Merkmale aufweist, die bei der Feststellung eines aufsichtsrechtlichen Regelungsbedarfs zu berücksichtigen sind (Abschn. III).
II. Finanzaufsichtsrecht als besonderes Ordnungsrecht
Das Finanzaufsichtsrecht lässt sich, wie erwähnt, – zumindest im Grundsatz – als besonderes Ordnungsrecht verstehen und damit in ein allgemeines Konzept ordnungsrechtlicher Gefahrenabwehr einordnen. Das für die Finanzaufsicht maßgebliche Recht hat sich in Deutschland bereits seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelt.569 Seinem Ursprung nach handelt es sich um ein besonderes Gewerbeaufsichtsrecht.570 Allerdings lässt sich das deutsche Finanzaufsichtsrecht heutzutage nicht mehr isoliert betrachten, sondern muss inzwischen als Teil eines international geprägten und größeren Ordnungsrahmens verstanden werden. Dieser wird aus deutscher Perspektive in vielen Bereichen durch die Beschlüsse und Empfehlungen der G 20 und internationaler aufsichtsbehördlicher Gremien und Organisationen (z.B. Finanzstabilitätsrat, Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, IOSCO) und durch das EU-Recht geprägt bzw. ausgestaltet. Bei der Frage, wann ein aufsichtsrechtlicher Regelungsbedarf besteht, sind sowohl die Überformungen durch diese internationalen und europäischen Vorgaben als auch die herkömmlichen Grundsätze des deutschen Ordnungsrechts zu beachten.
Die angesprochene Gemengelage trägt dazu bei, dass der Charakter des Aufsichtsrechts als Sonderordnungsrecht heute nicht mehr zweifelsfrei ist. Dabei bestehen weniger Unsicherheiten in Bezug auf Zuständigkeiten und Verfahren (formelles Aufsichtsrecht) als vielmehr in Bezug auf die Regelungsmaterie des Aufsichtsrechts in der Sache (materielles Aufsichtsrecht).
In formeller Hinsicht ist die Einordnung des Finanzaufsichtsrechts als Teilbereich des Ordnungsrechts im Wesentlichen unproblematisch. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) und die zuständigen Landesbehörden sind als Aufsichtsbehörden tätig.571 Es handelt sich hierbei um Finanzbehörden und damit um spezielle Ordnungsbehörden im Sinne des Bundes- und Landesordnungsrechts.572 Sie üben im Rahmen des deutschen Verwaltungsrechts folglich Aufgaben und Befugnisse einer ordnungsbehördlichen Gefahrenabwehr aus.
In materieller Hinsicht ist die Situation allerdings mittlerweile weniger eindeutig. Als Sonderordnungsrecht mag das Aufsichtsrecht im Finanzbereich dazu dienen, Gefahren für das Gemeinwohl abzuwehren, die aus dem Betrieb eines Finanzgewerbes bzw. aus Finanztransaktionen für die betroffenen Märkte fol gen.573 Allerdings ist es in Randbereichen zuweilen unklar und abhängig von der Perspektive, was zum Bereich der Finanzaufsicht zu zählen ist und wann Regelungen einen vorrangig privatrechtlichen Charakter haben und vor allem Verhaltenspflichten der Marktteilnehmer im Verhältnis zueinander regeln bzw. einer individuellen Interessendurchsetzung dienen (z.B. bei Aspekten des Anleger- und Verbraucherschutzes).574 Insbesondere im kapitalmarktrechtlichen Schrifttum wird die Unterscheidung zwischen öffentlichem Recht (Ordnungsrecht) und Privatrecht inzwischen zum Teil als überholt bzw. nicht weiterführend angesehen.575
Die Gründe für die Unsicherheiten hinsichtlich der Regelungsmaterie des heutigen Aufsichtsrechts sind insbesondere in den internationalen und europäischen Regelungsimpulsen zu suchen. Hierauf soll an geeigneter Stelle noch näher eingegangen werden.576
III. Besonderheiten gegenüber dem allgemeinen Ordnungsrecht
Ein aufsichtsrechtlicher Regelungsbedarf kann nach den allgemeinen Grundsätzen des deutschen Ordnungsrechts immer dann entstehen, wenn der Einsatz von Finanzinstrumenten aufsichtsrechtliche Schutzgüter gefährdet und ein Eingreifen auf aufsichtsrechtlicher Grundlage verhältnismäßig ist und sich im Rahmen ordnungsrechtlicher Befugnisse hält. Dabei betreffen die erstgenannten Kriterien die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Eingreifens, während sich aus den zuletzt genannten Kriterien rechtsfolgenbezogene Grenzen ergeben. Bei der Feststellung, ob dies der Fall ist, sind allerdings einige Besonderheiten des Finanzaufsichtsrechts zu beachten.
So ist namentlich die Verwendung eines allgemeinen Gefahrbegriffs im Finanzaufsichtsrecht, anders als im allgemeinen Ordnungsrecht, unüblich. Die Regelungen in den Gesetzen über die Tätigkeit bestimmter Finanzmarktteilnehmer (z.B. KWG, VAG, BörsG) knüpfen im Regelfall auch nicht ausdrücklich an Gefahrentatbestände an.577 Diese Besonderheiten dürften mit der speziellen Regelungsmaterie des Aufsichtsrechts zusammenhängen.
Denn angesichts der erfahrungsgemäß schwerwiegenden Folgen, wenn Risiken in einem solchen Umfang zunehmen, dass das Finanzsystem ganz oder in Teilen gefährdet ist, ist es ohne Weiteres nachzuvollziehen, dass der Gesetzgeber das Aufsichtsrecht ausgehend von einem Vorsichts- bzw. Vorsorgeprinzip ausgestaltet und den zuständigen Behörden Befugnisse einräumt, die es ihnen gestatten, bereits im Vorfeld etwaige Gefahren für bestimmte finanzaufsichtsrechtliche Schutzgüter abzuwenden. Ein solches Prinzip ist auch aus den EU-rechtlichen Verbraucherschutzbestimmungen und aus anderen Bereichen des Ordnungsrechts bekannt, in denen es um die Abwehr von Gefahren für besonders wichtige Schutzgüter geht, insbesondere aus dem Umweltrecht.578 Nach dem umweltrechtlichen Vorsorgeprinzip sind Maßnahme zur Risiko- und Zukunftsvorsorge über die Abwehr drohender Gefahren und eingetretener Schäden hinaus zu treffen, sodass Schäden vermieden werden und gar nicht erst zum Entstehen kommen.579 Die Risikovorsorge betrifft dabei entfernte Gefahren und Fälle geringer Eintrittswahrscheinlichkeit.580 Die Idee einer der Gefahrenabwehr vorgelagerten Vorsorge lässt sich auch auf das Finanzaufsichtsrecht übertragen.581 Das gilt allerdings nicht ohne Weiteres für den im Umweltrecht und in anderen Bereichen des Ordnungsrechts verwendeten Risikobegriff.582 Deshalb ist es im vorliegenden Kontext es präziser, von Gefahrenvorsorge zu sprechen.
Die G 20 haben diesem Konzept entsprechend für den Bereich der Finanzmarktregulierung auf internationaler Ebene beschlossen, dass die Regulierung „schnell auf Entwicklungen und Innovationen auf den Finanzmärkten oder bei Finanzprodukten reagieren“ müsse.583 Einen ähnlichen Gedanken formuliert auf der EU-Ebene der so genannte Larosière-Bericht, der als Reaktion auf die Finanzkrise Vorschläge für eine Verbesserung von Regulierung und Aufsicht gemacht hat.584 Die Verfasser heben in dem Bericht hervor, dass eine neue Regulierungsagenda erforderlich sei, um unter anderem „das Risiko zu senken und das Risikomanagement zu verbessern [sowie] prozyklische Verstärkungseffekte abzuschwächen“.585 In Bezug auf die Erfahrungen in der Finanzkrise halten die Verfasser fest, die Regulierung müsse die „Wahrscheinlichkeit solcher Krisen in Zukunft [...] verringern“.586 Das erfordere es, dass „alle [...] Schwächen“ des Vertrauens in die Finanzmärkte beseitigt würden.587 Die Formulierungen im zitierten Beschluss