Wir – der Verlag, Romeo Franz und ich – fanden den Weg zueinander und entschieden, Kunst und Kultur von Menschen mit Romno-Hintergrund anhand biografischer Interviews und Fotografien zu zeigen. Im Mittelpunkt sollte der Dialog stehen mit einem kleinen Ausschnitt von Künstlerinnen und Künstlern aus den Sparten Theater, Musik, Malerei, Film, Literatur und Fotografie, die mehrheitlich ihren Arbeitsschwerpunkt in Deutschland haben oder vorwiegend in Deutschland und anderen europäischen Ländern rezipiert werden. Zudem lässt der Band Aktivistinnen und Aktivisten aus der Bürgerrechtsbewegung zu Wort kommen.
Welche Rolle spielen aber Kunst und Kultur im Spannungsfeld zwischen Minderheit und Mehrheit? Hat der Antiziganismus, also die verbreiteten und tief verwurzelten Ressentiments gegen die Minderheit der Roma und Sinti auf allen Ebenen, das Kunstschaffen dieser Minderheit beeinflusst? Wie hat sich Kreativität unter dem Einfluss des Antiziganismus entwickelt? Kann Kunst das Trauma der Verfolgung überwinden? Welche Zukunftsträume und welche Lebensentwürfe haben „unsere Menschen“, Mare Manuscha, denen wir den Titel des vorliegenden Bandes widmen?
Das Buch zeigt mit den Worten von Romeo Franz, „dass Menschen mit Romno-Hintergrund in Europa keine homogene Gesellschaft, vielmehr ganz unterschiedlich sozialisiert und immer Bürgerinnnen und Bürger ihres Heimatlandes sind – und das seit Jahrhunderten. Aber trotz unserer Heterogenität verbindet uns etwas Gemeinsames, und das ist die kollektive Erfahrung, vom Antiziganismus betroffen zu sein, der uns seit Jahrhunderten eine gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft der Mehrheit verwehrt.“
Hören wir zu. Schauen wir hin. Führen wir einen Dialog. – Wir haben uns viel zu sagen.
Cornelia Wilß
ALFRED ULLRICH
„Ich arbeite mit dem Material und gegen es, was sich eigentlich auch übersetzen lässt für meine künstlerische Arbeit – ich arbeite mit der Gesellschaft und gegen sie, um herauszufinden, in welchem Verhältnis sich die Gesellschaft zu den Sinti und Roma heute befindet.“
An einem späten Nachmittag im September 2016 sind wir mit dem Künstler Alfred Ullrich in Berlin verabredet. Seine Ausstellung „ROLLING HOME“ wird in der Galerie Kai Dikhas gezeigt. Ullrich steht hinter einem Biertisch vor seinem Wohnwagen – einer „rollenden“ Werkstatt, mit der er unterwegs ist und Workshops für Drucktechniken anbietet.
Mütterlicherseits stammt Ullrich aus einer Wiener Sinti-Familie. Der Heranwachsende kam früh in Kontakt mit der Wiener Bohème und machte sich in den 1960er Jahren auf Wanderschaft durch Europa. Ab 1976 arbeitete Ullrich in München in einer Werkstatt für manuelle Druckverfahren. Die dort erlernten Techniken sind prägend für sein künstlerisches Schaffen.
Sein Berliner Galerist Moritz Pankok schreibt über Alfred Ullrichs (Druck-)Arbeiten, dass sie im „reizvollen Spannungsfeld zwischen Schönem und Grobem, zwischen Anmut und Provokation“ liegen: „Seine Druck-Kunst scheint sich auf den ersten Blick nicht mit seiner Herkunft zu beschäftigen; er setzt dort die Mittel des Druckhandwerks auf experimentelle Weise ein und schafft abstraktere Formationen. Er bevorzugt die Radierung, eine komplizierte Technik, die Präzision und Konzentration verlangt. Das Ergebnis sind zarte, zumeist abstrakte Bilder, die das Verfahren des Drucks selbst aufzeigen und das Gegenständliche auflösen. Betrachtet man die Arbeiten genauer, wird seine Spielfreude deutlich und Widersprüche erkennbar: die Strukturen bilden eine vielfältige Oberfläche, auf der Formen und Farben widerstreitende Wechselspiele eingehen. Bei den gedruckten Formen handelt es sich um Spuren physischer Zerstörung der Druckplatten, sei es durch Ätzungen oder Walzungen der Platten selbst oder etwa durch Abdrücke von in performativen Aktionen überfahrenen Bierdosen.“
Viele Jahre beschäftigte sich Ullrich, der seit 1980 im Landkreis Dachau lebt und arbeitet, in seinem Kupferdruck-Atelier mit ästhetischen Fragestellungen, in die sich immer stärker gesellschaftliche Inhalte hineindrängten.
Ullrich ist ein kritischer Beobachter, der auf Unbedachtes, Verstecktes aufmerksam macht, das andere übersehen. Fast täglich fuhr er am Dachauer „Landfahrerplatz“ vorbei. Lange vermied es Ullrich, der seine Großeltern, seinen älteren Bruder Alfred und zwölf seiner Onkel und Tanten in den Konzentrationslagern verlor, diesen Platz und die sogenannte KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Im Jahr 2006 veränderte sich seine Haltung gegenüber dem Platz. Er nutzte seine in der Neuen Galerie Dachau gezeigte Ausstellung „TRANSIDENTITIES“, um auf den verwahrlosten Zustand des „Landfahrerplatzes“ hinzuweisen. Mit der Ausstellung „Gadschi, Roma, Sinti, Manouches“ in der Galerie der Künstlervereinigung Dachau geriet fünf Jahre später der Name des Platzes selbst in den Fokus. Ullrich stellte öffentlich die Frage, weshalb so viele Jahre nach der Kapitulation des Dritten Reiches solche diskriminierenden Begriffe weiterhin scheinbar arglos verwendet würden. „Mit der Zwei-Kanal-Videoinstallation ‚Crazy Water Wheel, 2011‘ und Dokumenten aus dem Stadtarchiv Dachau sowie verschiedenen Objekten versuchte ich das Publikum und besonders die Dachauer Obrigkeit zu einer Stellungnahme zu bewegen”, erinnert er sich. Das Publikum und die Presse nahmen sein Ansinnen auf, nicht so die „Obrigkeit“. Der Dachauer Oberbürgermeister reagierte erst, als sich auch Dachauer Bürger dafür einsetzten, das Schild zu entfernen. Es verschwand über Nacht. Eine weitere Auseinandersetzung fand nicht statt. Heute sieht Alfred Ullrich das Geschehen damals mit anderen Augen: „Ich hätte es begrüßt, wenn das Schild mit historischen Erläuterungen stehen geblieben wäre.“ Den Platz gibt es nicht mehr. Doch mit seinem Verschwinden ist auch das Angebot, sich mit der Geschichte des Ortes auseinanderzusetzen, verloren gegangen, bedauert Ullrich.
„Die Katastrophe ist für mich nichts Außergewöhnliches, weil ich in einer Katastrophe lebe“
Cornelia Wilß: Ihre Mutter hat eine bewegende Lebensgeschichte. Möchten Sie sie erzählen?
Alfred Ullrich: Meine Mutter, die in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden wäre, hat ihre Eltern, zwölf ihrer 15 Geschwister und ihren ersten Sohn in den deutschen Konzentrationslagern verloren. Sie ist 1916 in Niederösterreich geboren worden. Gleich am Anfang, 1939, hat man sie in Konzentrationslager verschleppt, erst 1945 kam sie frei. Ich war immer stolz darauf, dass meine Mutter als österreichische Staatsbürgerin – darauf habe ich Wert gelegt – eine der wenigen Österreicherinnen war, die Widerstand geleistet hatten. Als sie im „Arbeitslager“ Ravensbrück war, hat sie Sabotage betrieben und Projektile unbrauchbar gemacht. Sie sprach oft darüber, wie sie gelitten hatte, weil sie hatte zusehen müssen, wie ihre Schwestern im KZ starben, und sie ihnen nicht zur Seite stehen konnte. Nach der Befreiung durch die Amerikaner aus dem KZ Buchenwald lernte sie meinen Vater auf dem Weg wahrscheinlich von Buchenwald nach Wien bei Enns in der Nähe von Linz in einem Lager für Displaced Persons kennen. Angeblich war er deutscher Soldat, angeblich war er sogar bei der SS gewesen. Mit der gemeinsamen Geschichte meiner Eltern habe ich mich deswegen nie besonders identifizieren können. Was bin ich? Wer bin ich?
Um deutliche politische Zeichen zu setzen, verlässt sich Alfred Ullrich nicht mehr nur auf seine Druckkunst allein, sondern tritt auch mehr und mehr als Aktionskünstler in Erscheinung.
Jedenfalls ist sie mit meinem Vater nach Schwabmünchen, Richtung Neugablonz, gezogen, wo sich viele Sudetendeutsche nach dem Krieg niedergelassen hatten, die nicht mehr nach Hause konnten. Die beiden haben geheiratet, deswegen heiße ich Ullrich. Meine Schwester Lilly und ich sind in Schwabmünchen geboren worden, meine Schwester Puppa stammt aus einer anderen Beziehung. Die Ehe mit