Anleitung für ein besseres Leben. DIE ZEIT. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: DIE ZEIT
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844257168
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bin ich Schriftsteller, mein erster Krimi Teufelsfrucht ist im Frühjahr erschienen. Was mich an der Festanstellung gestört hat, waren die festen Strukturen: morgens Mails lesen, sich über die Nachrichtenlage informieren, in Konferenzen sitzen, Mitarbeiter instruieren. So kam ich oft erst nachmittags dazu, an eigenen Artikeln zu arbeiten. Wenn ich morgens auf dem Weg zur Arbeit eine Idee hatte, war die bis dahin wieder weg. Und auch dann klingelte ständig das Telefon – oder eines der anderen im Großraumbüro. Andere schreiben stoisch weiter, wenn um sie herum alles brodelt, aber ich bin nicht der Typ dafür. Ich möchte Kolumnen schreiben und schriftstellerische Texte, und für diese kreative Arbeit brauche ich Freiraum. Den habe ich mir durch die Kündigung verschafft. Jetzt bin ich als Autor komplett freischwebend. Den Tag verbringe ich meistens zu Hause mit Lesen und Schreiben. Dann schalte ich die Klingel der Haustür und das Telefon aus, die Ruhe ist manchmal fast gespenstisch. Und wenn mir mal nichts einfällt, gehe ich ins Schwimmbad. Letztens hatte ich danach alle Ideen für die nächsten zwei Kapitel. Da habe ich mich gefragt: War das jetzt Arbeit?«

      Mehr zum Thema:

       Katja Kullmann: »Echtleben«

      Die Autorin beobachtet das Lebensgefühl der über 30-Jährigen, die Festanstellungen immer vermieden und sich alle Optionen offengehalten haben – und die sich nun oft in prekären Verhältnissen wiederfinden. Eichborn, 256 Seiten, 17,95 Euro

      Arbeiten, bis der Arzt kommt

      Burn-out wird zur Volkskrankheit, und noch nie gab es so viele Menschen, die sich wegen psychischer Probleme krankmeldeten. Warum bestimmt die Arbeit so sehr unser Leben, dass sie nach und nach die Seele auffrisst?

      Von Kolja Rudzio und Wolfgang Uchatius

      Das Wichtigste

      Weltweit nimmt bei Erwerbstätigen die Zahl der seelischen Krankheiten zu. Das ist oft die Folge eines erhöhten Drucks. So arbeitet in Deutschland jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte mehr als 60 Stunden in der Woche; viele leiden zudem unter ihren Chefs, intriganten Kollegen oder dem eigenen Perfektionismus. Wer dann noch seine sozialen Bindungen verliert, etwa den Kontakt zu Freunden, ist hochgradig gefährdet, an einem Burn-out zu erkranken.

      Briefe bleiben ungeöffnet, Essensreste vergammeln – wer überlastet ist, erledigt nicht mal die einfachsten Dinge.

      Für manche Immer-Erreichbare wird die neue Technik zum Fluch. Das Leben in ständiger Alarmbereitschaft macht sie krank.

      Am einfachsten wäre es, sich die Deutschen als ein Volk von Wehleidern vorzustellen. Als Menschen, die gerne jammern und keinen Stress vertragen. Man müsste sich dann nicht groß Gedanken über die Arbeitswelt machen. Die Sache mit Carsten Becker* und dem Mann an der Stereoanlage wäre leicht zu erklären.

      Am Anfang hatte Becker nur ein leichtes Rauschen in den Ohren, manchmal klang es fast beruhigend. Doch dann verwandelte es sich in ein Piepen, in einen Ton, der Carsten Becker morgens und abends, Tag und Nacht verfolgte und sich zu einem schrillen Pfeifen steigerte. Es war, sagt Becker, als sei da ein Mann neben ihm gewesen, der eine Stereoanlage aufdrehte, immer weiter und weiter, obwohl Becker längst »Aufhören!« schrie. Doch es gab keinen Mann. Keine Stereoanlage. Und nur Becker konnte den Ton hören.

      Der 35-Jährige ging zum Arzt. Tinnitus lautete die Diagnose, Ohrgeräusch, typisches Überlastungssymptom, außerdem ein Hörsturz. Becker konnte einige Frequenzen nicht mehr wahrnehmen. Er bekam Infusionen mit Kortison. Sein Hörvermögen kehrte zurück, das Pfeifen wurde leiser.

      Alles gut, dachte Becker und ging wieder in sein Büro in einer bayerischen Bank, in der er seit 19 Jahren arbeitet. Er betreut dort Firmenchefs, genauer: Geschäftsführer von mittelständischen Unternehmen mit mehreren Hundert Mitarbeitern. Mithilfe der Bank wollen sie Maschinen, Lastwagen, Immobilien dauerhaft mieten, statt sie zu kaufen. Leasen heißt das in Beckers Welt. Becker entwirft die Leasingverträge, kalkuliert die Raten, er muss gleichzeitig die Rendite erhöhen, die Konkurrenz ausstechen, die Kunden überzeugen. Halt’ ich schon aus, dachte er. Bis das Pfeifen in den Ohren zurückkehrte. Und Becker wieder Kortison bekam.

      Dreimal wiederholte sich das. Dann sagte der Arzt: »Sie müssen jetzt mal an die Ursache ran.«

      Der Arzt meinte Beckers Job. Der tägliche Stress mache ihn fertig. So wie Hunderttausende Bundesbürger, die jedes Jahr an ihrer Arbeit erkranken. Deren Körper und Seele sich gegen den Job zur Wehr setzen. Ein paar Wochen Urlaub helfen ihnen nicht mehr. Sie werden depressiv, sind chronisch erschöpft, ausgebrannt.

      Eigentlich halten die Deutschen weit mehr aus als früher. In den siebziger und achtziger Jahren ließen sie sich doppelt so oft krankschreiben wie heute. Rückenleiden, Herzbeschwerden, Magenprobleme, das hält sie heute seltener vom Arbeiten ab. Nur die psychischen Erkrankungen haben zugenommen. Allein seit Anfang der Neunziger hat sich die Zahl der Fälle nach Angaben der Krankenkassen fast verdoppelt – von 5000000 im Jahr auf knapp eine Million.

      Und das ausgerechnet in Deutschland. In einem Land, in dem der durchschnittliche Angestellte nach Erhebung des Statistischen Bundesamtes nur noch 30 Stunden in der Woche arbeitet. Dazu kommen 31 Tage Urlaub und, je nach Bundesland, 9 bis 13 Feiertage. Klingt ganz gemütlich.

      Wie ist es möglich, so wenig zu arbeiten und dennoch so sehr darunter zu leiden? Verspüren die Deutschen einen kollektiven Phantomschmerz, oder gibt es eine andere Erklärung für dieses Missverhältnis?

      Gibt es: Die Statistik ist falsch. Oder genauer: Sie führt in die Irre. Zwar arbeiten die Bundesbürger im Durchschnitt tatsächlich ziemlich wenig. Aber es ist eben nur ein Mittelwert. Früher war er ziemlich aussagekräftig. Damals arbeiteten fast alle Deutschen Vollzeit, und Vollzeit hieß 40 Stunden, jedenfalls ungefähr.

      Heute ist das anders. Der Arbeitsmarkt hat sich geteilt. Auf der einen Seite gibt es Teilzeitarbeiter, geringfügig Beschäftigte und Minijobber, auf der anderen Viel- und Dauerarbeiter. So entsteht eine niedrige Durchschnittszahl, die nichts aussagt. Laut einer Studie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin arbeitet heute jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte mehr als 60 Stunden in der Woche. Es sind Wochenendarbeiter, Überstundenklopper, Immer-Erreichbare. Es sind Leute, in deren Leben die Arbeit alles bestimmt.

      Und manchmal tritt sie ihnen zu nahe.

      Auf dem Papier hat der gelernte Bankkaufmann Carsten Becker keine besonders langen Arbeitszeiten. 39 Wochenstunden stehen im Tarifvertrag. Auf der Visitenkarte, die Becker seinen Kunden gibt, aber heißt es: »Beratungszeit: 8–20 Uhr«. Den Kunden ist es egal, wann er die 39 Stunden voll hat. Sie rufen auch am Wochenende auf Beckers Handy an. Geht er nicht ran, werden sie wütend. Manche hinterlassen ihm dann eine Drohung auf der Mailbox: »Wenn ich in den nächsten zehn Minuten keinen Rückruf kriege, können Sie den Vertrag vergessen.«

      Becker muss sich dann dafür entschuldigen, dass er nicht erreichbar war. Er darf keinen Kunden verlieren. Jede Woche berichtet er seinem Vorgesetzten, wie sich das Geschäft entwickelt. Stimmen die Zahlen nicht, bekommt er Druck, und sie stimmen nur noch selten. Im Zuge der Wirtschaftskrise war das Leasinggeschäft eingebrochen. Die Bank baute Stellen ab. Ihr Geschäft nahm ab, aber Beckers Belastung zu. Gemeinsam mit einem Kollegen ist er für mehr als tausend Leasingverträge zuständig, jeden Tag schreibt er fünf oder sechs Vertragsangebote. Ein Fehler kann Zehntausende, manchmal sogar Hunderttausende Euro kosten. Carsten Becker macht keine Fehler. Dafür sieht er seine Frau und seine zwei Kinder fast nicht mehr.

      Als sein direkter Kollege in der Leasingabteilung für drei Wochen in den Urlaub fährt, muss Becker auch dessen Arbeit übernehmen. Das Pfeifen in seinem Kopf ist wieder da, er kann nicht mehr schlafen. Es gibt Leasingverträge aus dieser Zeit, die seine Unterschrift tragen, obwohl er schwören könnte, sie nie gesehen zu haben: »Ich bin nur noch wie ein Roboter ins Büro gegangen.«

      Kurz darauf erleidet der Roboter seinen vierten Hörsturz, ärgert sich über die Unterstellung des Arztes, er sei überlastet, und holt sich schließlich doch eine Überweisung für den Psychotherapeuten.

      Carsten Becker geht jetzt nicht mehr ins Büro.