Eine Leiche zum Lunch. Susanne Danzer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Susanne Danzer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741831263
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die Hände würdevoll hinter dem Rücken.

      Henderson begann zu rechnen. Er kam zu dem Schluss, dass der wiederkäuende Bobby genau dreieinhalb Minuten nach seinem letzten und vor seinem nächsten Auftritt am weitesten vom Fundort entfernt sein musste.

      Das war der richtige Augenblick. Genau dann musste er zuschlagen.

      Der Anblick des ledernen Koffers stimmte ihn so gut gelaunt, dass er dem kugelrunden Reisenden, der sich unmittelbar neben ihm eine Zeitung kaufte, mit einer altbewährten Bewegung flinker Finger die Zigarettenpackung aus der Jackentasche zog und sich gemütlich eine davon anzündete.

      Das Rindvieh, wie er den Bobby, in einem Anfall von staatsbürgerlicher Respektlosigkeit, inzwischen nannte, trat eben erneut durch die Schwingtür.

      Henderson warf einen Blick auf die große Uhr in der Halle.

      Dreizehn Minuten vor neun Uhr.

      Immer noch stand der Koffer unberührt an seinem Platz, nur knapp neben einem Fahrkartenschalter und schien ihn geradezu anzuflehen sich seiner anzunehmen.

      Wieder kam ein kurzer Zweifel auf. Hatte vielleicht der Schalterbeamte ein Auge auf den Koffer? Möglicherweise bat ihn der Besitzer darum, um seinen Erledigungen, ungehindert von einem sperrigen Gepäckstück, nachzugehen. Womöglich war er nur kurz um die Ecke, um sich noch Irgendetwas für die Reise zu besorgen, wo immer sie ihn hinführen mochte.

      Er verwarf diesen Gedanken sofort wieder. Nein, das konnte nicht sein, denn dann hätte der Fahrkartenverkäufer längst einmal einen Blick darauf werfen müssen. Nein, nein, das war seine Sternstunde. Diesmal konnte nichts schiefgehen.

      Der Bobby bewegte sich zur Schwingtür hinaus, um seine Runde von neuem zu beginnen. Henderson schmunzelte. Sogar in dessen Bewegungen schien sich das Wiederkäuen bemerkbar zu machen, was sich an seinem breitbeinigen, wiegenden Gang zeigte.

      Er spürte die aufkommende Nervosität, die jeden Schauspieler vor dessen Auftritt befällt, in seinen Gliedern. Er knackte mit den Knöcheln seiner Finger, um diese zu lockern und geschmeidig zu machen. Es war ein angenehmes Gefühl, das ihm Schwung verlieh und die letzten Hemmungen nahm, die, wie er sich eingestehen musste, bisweilen immer noch ihr Unwesen in seinem Inneren trieben. Glücklicherweise nur selten und in zunehmendem Alter immer weniger. Er liebte diesen Moment der Vorfreude.

      In elf Minuten wurde es neun Uhr.

      Er warf seine Zigarette zu Boden und trat sie beiläufig aus. In einem Anfall plötzlicher Dankbarkeit an das Schicksal tat er etwas, was er noch nie in seinem Leben getan hatte: Er steckte dem kugelrunden Reisenden, der in seiner Zeitung las, die Zigarettenpackung wieder zurück in die Jackentasche. Gerade rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick fasste der Mann danach und steckte sich eine der runden langen, filterlosen Dinger in den Mund.

      Der Zeiger der Uhr war eine Minute vorgerückt.

      Hendersons Bewegungen wurden mit einem Mal gleitend. Mit der Ruhe eines selbstbewussten Meisters löste er sich von seinem sicheren Standort neben einer Säule, an die er sich gelehnt hatte, und überquerte mit klackernden Schritten, die die Absätze seine Schuhe verursachten, die Halle.

      In der Mitte hielt er noch einen Augenblick inne, so als sähe er sich nach einem Gepäckträger um, bevor er weiterpirschte, wie ein Weidmann auf der Jagd nach einem Hirsch.

      Dann schritt er, nachdem sein Bemühen scheinbar erfolglos war, geradewegs auf seine Beute zu. Mit Mühe verkniff er sich ein fröhliches Pfeifen, das bereits über seine Lippen kriechen wollte, denn es hätte ihn gar zu verdächtig gemacht.

      Mit der Miene eines Mannes aus der Provinz, der im Gewirr der Großstadt etwas unbeholfen war, trat er an den Fahrkartenschalter heran und fragte, fast stotternd:

      »Wann geht der Nachtzug nach Edinburgh?«

      »Wenn Sie nach Edinburgh wollen, würde ich Ihnen raten, vom Zentralbahnhof zu fahren. Hier kommt kein Zug dorthin durch.«

      »Ich dachte es mir«, nickte er freundlich. »Das werde ich wohl machen, wenn ich nach Schottland kommen will. Ich habe nur noch einiges zu erledigen. Ich danke Ihnen, Sir. Vielen Dank für Ihre Freundlichkeit.«

      Damit fasste er wie selbstverständlich nach dem Koffertragegriff, hob in an und ging davon.

      Der Schalterbeamte lächelte unverbindlich und wandte sich dem nächsten Fahrgast zu, der mit einigen Wünschen seine Aufmerksamkeit verlangte.

      Henderson fielen zwei Dinge auf, während er sich zielstrebig dem Ausgang zuwandte: Erstens, dass der Koffer verdammt schwer war und ihm ganz schön zu schaffen machen würde. Das Zweite war, dass er etwas zu spät mit der Aktion eingesetzt hatte, weil ihm der Trick mit der Auskunft erst auf dem Weg eingefallen und es zudem ein wenig stümperhaft ausgeführt worden war. Sein schauspielerisches Können schien ein wenig eingerostet zu sein.

      Jedenfalls zeigte der Zeiger der Uhr bereits auf acht Minuten vor neun Uhr morgens.

      In etwa einer Minute, höchstens eineinhalb, wenn er Glück hatte, musste das Rindvieh wiederkommen.

      In der Ausgangstür stieß er mit einer älteren Dame zusammen, deren exquisite Kleidung nicht ganz zu ihrem Vorstadtdialekt passte, mit dem sie ihn für seine Ungeschicklichkeit wüst beschimpfte, während sie ihren ins Rutschen gekommenen übertrieben großen Hut, wieder in die korrekte Position brachte.

      Von Sekunde zu Sekunde wurde der Koffer schwerer, sodass es ihm beinahe den Arm aus der Schulter zu kugeln schien.

      Henderson brach der Schweiß aus, seine Stirn glänzte und seinen mittlerweile feuchten Handflächen, drohte der glatte Griff des Koffers zu entgleiten.

      Für ihn erwies sich, wovon er überzeugt war, dass heute sein Glückstag war. Eine freie Kutsche kam herausfordernd auf ihn zu, als hätte der Lenker ausschließlich auf ihn gewartet.

      Er brauchte die Linke nur ein wenig anzuheben und der Kutscher hielt die Pferde an, sprang vom Bock, ließ ihn einsteigen und verstaute den Koffer, mit einem angestrengten Schnaufen, hinten, auf der dafür vorgesehenen Gepäckablage, ehe er wieder aufstieg.

      »Wohin?«, fragte der Mann.

      »Wie bitte?«

      »Wohin wollen Sie, Sir?«, wiederholte der Kutscher.

      »Hmm … Soho, Foley Street, das letzte Haus rechts.«

      Er rief es ihm zu, ohne seinen Kopf aus dem Fenster zu halten, denn er hatte ein paar aufgeregte Leute entdeckt, von denen jetzt einer hektisch auf die Kutsche deutete. Der Fahrer ließ die Pferde antraben, als der Bobby zu der Gruppe trat, um den Grund für die Aufregung zu erfahren.

      Und dann ging es sehr rasch.

      Keine Minute später setzte sich eine weitere Kutsche in Bewegung, die ihnen folgte.

      »Machen Sie schneller!«, rief Henderson dem Mann auf dem Kutschbock zu.

      »Ich weiß nicht, ob ich nicht lieber stehenbleibe und die Herren frage, was sie von Ihnen wollen, Sir!« gab er zurück, nachdem er einen Blick hinter sich geworfen hatte.

      »Das könnte ich Ihnen sagen, wenn ich Zeit hätte!«, erwiderte Henderson patzig und ließ sich rasch eine Schauergeschichte einfallen. »Ich bin Privatdetektiv, obwohl ich Ihnen das eigentlich nicht sagen dürfte, wegen der Geheimhaltung. Die Herren dahinten haben es auf mein Gepäck abgesehen, in dem ich alle Indizien mitführe, die ihre Schandtaten aufdecken werden! Beweise, die mehr als brisant sind und die umgehend zu meinem Auftraggeber gelangen müssen. Deshalb ist eine Verzögerung unerwünscht und kann von mir nicht hingenommen werden.«

      Die Verfolger holten etwas auf.

      »Können Sie sich ausweisen, Sir?«, fragte der Kutscher, dem die Geschichte so noch nicht ausreichte.

      »Sicher!«, rief er mit gespielter Empörung. »Wenn wir die Bande losgeworden sind, werde ich Ihnen meinen Ausweis zeigen. Meinetwegen nenne ich Ihnen auch noch meine Konfektionsgröße und gebe Ihnen die Adresse meines Schneiders! Aber jetzt geben Sie den Pferden mal richtig die Peitsche!«

      Der