Sichelland. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844241334
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entfernt stand. Die Leiter im Innern war noch gut erhalten und führte zu einem Zwischengeschoss, das ebenfalls noch einen stabilen Eindruck machte. Nur weiter oben, wo früher die Glocke geläutet worden war, war das Mauerwerk brüchig und verkohlt.

      „Ein ausgebrannter Feuerturm. Seltsam, nicht wahr?“ scherzte Rahor. „Hier, durch diese Scharten kannst du nach draußen sehen. Nein, geh dort hinüber. Von da hast du den besten Blick auf die Gegend nördlich von Semon-Sey. Und? Kannst du sie sehen?“

      Sara nickte stumm. Sie kniete auf dem staubigen Boden des Glockenturmes und sah durch den nur handbreiten Mauerspalt hinaus, doch der Anblick verschlug ihr die Sprache.

      Unweit des Stadttores und zugleich mitten in der wilden Landschaft Cycalas' bot sich ein beeindruckendes Bild. Noch nie hatte Sara einen solchen Sonnenaufgang gesehen – feuerrot und unbezähmbar loderte das Morgenlicht über die Landschaft. Und dort, auf einem Hügel, stand der herrliche Mondhengst, den sie in Shanguin gefunden hatten. Auf ihm thronte die Herrin der Krieger, ihr schwarzes Haar und ihr Umhang flatterten im aufwallenden Wind und so standen die beiden – Pferd und Reiterin – unbeweglich und starrten erwartungsvoll nach Norden. Sara konnte sich kaum von diesem Anblick losreißen. Auch die Stadtwachen verharrten bewegungslos am Torbogen und genossen diesen schlichten Ausdruck der Macht. Obwohl sie keine Sichel gezogen hatte und einfach nur ruhig auf ihrem Hengst saß, strahlte Lennys eine geradezu übernatürliche Kraft aus und niemand in ganz Sacua hätte in diesem Moment daran zweifeln können, dass sie die Herrin des Sichellandes war. Nicht Talmir. Kein toter Makk-Ura. Sie war es.

      Auch Rahor hatte eine Scharte gefunden, die nach Norden wies und auch er schwieg einige lange Momente, nachdem er hindurchgespäht hatte.

      „Das ist ein großes Geschenk an Wandan.“ sagte er dann. „Sie zeigt sich selten so. Ohne Begleiter, nur sie allein draußen in der Natur und doch für jeden sichtbar.“

      „Aber...was ist das?“ fragte Sara verwirrt. „Dieses Licht, der Wind... sie selbst... Es ist alles so....“

      „Unwirklich? Ja, ich weiß. Sie ist einfach nur da und doch hätte kein anderer an ihrer Stelle diese Wirkung. Es ist, als ob sie ein untrennbarer Teil dieses Landes wäre und zugleich spürt man, dass sich alle Kräfte Cycalas in diesem Moment in ihr vereinen.“

      Sara nickte. Sie hätte es nicht besser in Worte fassen können.

      „Da ist Wandan!“ rief Rahor plötzlich.

      Zwischen zwei Ausläufern des riesigen Waldes kam gerade in diesem Moment ein zweiter Reiter hervor. Er ritt kein Mondpferd, doch auch sein Tier war schwarz, ebenso sein Umhang mit der hochgeschlagenen Kapuze. Aber trotz der Entfernung konnte Sara auch die Unterschiede zu Lennys erkennen. Der Mann trug keine Sichel und trotz seiner muskulösen Figur machte er einen weniger starken Eindruck als seine Shaj. Der Rücken war leicht gebeugt als hätte er in seinem Leben schon zu viele Lasten getragen und der lange Bart war grau und verfilzt. Wie Lennys ritt auch er ohne Sattel, doch an einem Riemen, den er um den Leib des Pferdes geschlungen hatte, baumelte eine Provianttasche und ein knorriger Stab.

      Jetzt hielt er direkt auf seine Herrin zu, aber er trieb sein Tier nicht an, sondern hielt es im Schritt. Etwa hundert Meter von Lennys entfernt stieg er mühsam ab, zog den Stab aus dem Riemen und humpelte darauf gestützt auf die Shaj zu, die immer noch unbeweglich auf ihrem Mondhengst saß. Als er sie erreicht hatte, fiel Wandan auf die Knie.

      Lange Zeit verharrten die beiden Krieger so. Sara konnte nicht sehen, ob sie miteinander sprachen. Dann richtete sich der Mann wieder auf, ging zurück zu seinem Pferd und zog sich hinauf.

      „Sie kommen.“ sagte Rahor.

      „Wir müssen weg, bevor sie uns sehen.“ erwiderte Sara.

      „Nein. Wir werden ihn begrüßen, wie es für einen Cas angemessen ist.“

      Als Rahor und Sara sich der Stadtmauer näherten, durchritten Lennys und Wandan gerade das Tor. Sofort verbeugte sich Rahor tief und Sara, die nicht wusste, wie sie sonst Lennys' Zorn hätte abwenden können, tat es ihm gleich. Die mystische Aura, die Lennys gerade noch umgeben hatte, verschwand, als die Shaj die beiden mit kalter Stimme ansprach.

      „Wer hat euch erlaubt, Vas-Zarac zu verlassen?“

      „Es ist meine Schuld. Ich hielt es für meine Pflicht den ehrwürdigen Wandan im Namen der Cas zu begrüßen. Dabei wollte ich aber auch mein Wort halten und eure Leibdienerin beschützen.“

      „Seit wann veranlasst dich Neugier dazu, solche Dummheiten zu begehen, Rahor? Du hättest Wandan ebenso in der Festung begrüßen können.“

      „Es tut mir leid.“

      Augenscheinlich störte Lennys sich nicht weiter an der unverhofften Anwesenheit Rahors und Saras. Stattdessen war es Wandan, der jetzt wieder vom Pferd glitt und den beiden gegenüber trat.

      Er hatte dieselben schwarzen Augen wie Mondor und Lennys, feuriger als die Akoshs und so durchdringend, dass es Sara wieder einen Schauer über den Rücken jagte. Seine verwitterten Züge waren abweisend und ließen ihn viel älter wirken als er wohl tatsächlich war und dennoch vermittelte er einen freundlichen Eindruck. Sein linkes Bein schien steif und auch die tiefen Narben an Armen, Händen und im Gesicht zeugten von zahlreichen Kämpfen.

      Wandan sagte kein Wort, sondern musterte Rahor und Sara ungewöhnlich lange. Sein Blick wanderte zu Rahors Sichel und dann wieder hinauf, wobei sein Gesicht nicht einmal eine Armlänge von dem Antlitz des jungen Cas entfernt war.

      „Du also.“ flüsterte er heiser. Ohne eine weitere Bemerkung winkte er sein Pferd herbei, stieg auf und folgte Lennys zurück zur Burg.

      „Ich habe seinen Platz eingenommen.“

      Rahor war immer noch sichtlich mitgenommen von der Begegnung mit Wandan. Jetzt saß er zusammen mit Sara in der Bibliothek und ging unruhig auf und ab. Lennys und Wandan hatten sich ins Kaminzimmer zurückgezogen.

      „Seinen Platz?“ fragte Sara.

      „Der Cas, der dem Shaj am nächsten steht. Das war er. Er war Satons rechte Hand. Natürlich... Lennys möchte niemanden so nah an sich heranlassen. Aber es gibt einige Dinge, die sie... ach, es klingt sicher hochgestochen, aber manches lässt sie eben nur durch mich erledigen. Ich habe es dir ja schon einmal erklärt. Nachdem Wandan weg war und Lennys offiziell zur Shaj geweiht wurde, ernannte sie mich zu Wandans Nachfolger. Das hat nicht nur für Zustimmung gesorgt. Und ich habe seither alles dafür getan, dass sie diese Wahl nicht bereut. Aber wie muss es für Wandan sein, wenn er jetzt sieht, dass ein junger, unerfahrener Mann wie ich an seiner Stelle steht. Im Vergleich zu ihm bin ich ein Nichts,… ein Niemand....“

      „Hör auf!“ platzte Sara heraus. Doch sogleich besann sie sich. „Verzeih mir... ich .. ich glaube bloß, dass ...du dir zu Unrecht Sorgen machst...“

      Rahor lächelte. „Sara, du musst nicht mit mir reden wie mit deiner Herrin. Du gehörst zu den wenigen, denen ich hier noch vertraue, auch wenn wir uns kaum kenne. Also sage mir, was du denkst und sprich zu mir, wie du es zu einem Freund tun würdest.“

      Sara errötete leicht.

      „Wenn Wandan der Shaj wirklich so treu ergeben ist, dann wird er deine Wahl nicht in Zweifel ziehen. Es heißt, er wäre ein großer Krieger. Dann weiß er auch, dass das Alter allein nichts aussagt. Auch er war einmal jung und sicher war er damals auch schon seines Amtes würdig.“

      „Aber er schien enttäuscht als er mich sah. 'Du also' hat er gesagt. Hast du das nicht gehört?“

      „Ja, das habe ich und...“ Sara stockte. „Warum eigentlich? Ich meine, ich dachte er spricht nicht mehr.“

      Ratlos ließ sich Rahor auf ein Sitzpolster fallen. „Ja, das dachte ich auch. Er ist eben immer für eine Überraschung gut. Ich hätte ja auch nicht gedacht, dass mich das alles so durcheinander bringt. Ich habe mich benommen wie ein aufmüpfiger Wichtigtuer. Um ihn zu begrüßen.... meine Güte, was für eine Antwort. Ich hätte offen zugeben sollen, warum wir dorthin gekommen sind. Um die Shaj zu beschützen, meinetwegen auch aus Neugier... aber das, was ich gesagt habe, war