„Ich... ich habe noch eine Nachricht... oder eher zwei...“
„Und die wären?“
„Zum einen lässt euch der Herr Rahor seine Grüße bestellen. Er reist heute wieder ab und er bedauert, dass er sich nicht verabschieden kann. Außerdem lässt der Herr Wandan anfragen, ob ihr euch heute abend mit ihm treffen möchtet.“
„Nein, möchte ich nicht.“
Etwas verwirrt nickte Afnan und verließ den Raum wieder. Als die Tür ins Schloss fiel, hatte Lennys das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Sie wollte nach draußen, weit weg von diesem Zimmer, weit weg von der Burg und vor allem weit weg von allen Dienern, Kriegern und Würdenträgern.
18. Tag des Mena im 23. Jahr Satons
An der Westküste Cycalas' waren nur selten Menschen zu beobachten. Es gab hier wegen der derben Winterstürme und der kargen Landschaft keine Siedlungen und wer gerne am Meer leben wollte, zog den inneren Sichelbogen im Osten vor, wo man der unbarmherzigen Natur nicht ganz so hilflos ausgeliefert war.
In diesem Frühling aber erfreute sich der felsige Landstrich, der in einer kiesbedeckten Bucht endete, zunehmender Beliebtheit bei Schaulustigen aus dem ganzen Land. Besonders aus Askaryan und Semon-Sey kamen immer wieder Wanderer hierher, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten und findige Händler boten gegen einen saftigen Preis sogar an, den einen oder anderen auf ihrem Wagen mitzunehmen und einen Umweg über die Küste zu fahren. Dabei gab es die meiste Zeit über gar nichts allzu Aufregendes zu sehen. Natürlich, die großen Schiffe und Barken der Geliebten der Erde boten ein eindrucksvolles Bild, ebenso die wachhabenden Soldaten, aber die sagenhaften Silberschätzen des Reichs, die als Fracht an Bord gebracht wurden, blieben dem gewöhnlichen Zuschauer verborgen. Zu streng wurden die Truhen mit dem kostbaren Metall bewacht und zur Nachtstunde, wenn die Übergabe an die Kapitäne erfolgte, durfte sich kein Unbefugter den Laderampen nähern.
Trotzdem galt es als Ehre, bei diesem eigentlich historischen Ereignis dabei zu sein. Zum ersten Mal verließen die Heiligtümer Cycalas' das Land und zum ersten Mal strebten Sichelländer an, außerhalb ihrer eigenen Grenzen sesshaft zu werden. Natürlich sollte es kein dauerhafter Zustand sein. Niemand dachte daran, auf der weit im Südwesten gelegenen Abendinsel mehr als ein vorübergehendes Lager zu errichten, keine Rede war von Dörfern oder Städten und die Frage, ob man zu den rückständigen Fremdvölkern Kontakt aufnehmen würde, war immer noch nicht beantwortet. Aber es war ein Schritt, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte.
Mehr als nur eine kurzer Vorstoß der Krieger in den Shanguin-Gürtel oder nach Zrundir.
Mehr als nur eine Expedition nach Valahir.
Viel mehr.
Saton fand in diesen Tagen nur selten Schlaf. Der Shaj der Nacht verbrachte viel Zeit damit, das Verladen des Silbers selbst zu überwachen und noch mehr Zeit mit langen Gesprächen im Großen Saal. Die Dunen, die obersten Handwerker des Landes, waren froh, dass der höchste Gebieter der Nacht so eng mit ihrem eigenen Oberhaupt Ron-Caha-Hel zusammenarbeitete und ihnen so allen nur erdenklichen Schutz zusicherte. Und auch Maliss, die Shaj des Himmels, suchte ständig seinen Rat, denn immerhin spielten die Priester des Landes eine gewichtige Rolle in dieser Geschichte. Saton konnte sich nicht erinnern, wann die drei Säulen jemals so aufeinander angewiesen waren – in einer Angelegenheit, die sich fernab des Sichellandes zutragen sollte. Und er war froh, dass er den beiden anderen Herrschern voll und ganz vertrauen konnte. Es war nicht selbstverständlich, wie ihn die Geschichte der Shajs gelehrt hatte.
Auf einem großen Platz mit gestampfter Erde hatten Handwerker ein gewaltiges Zelt aufgebaut. Hier hielten sich die höchsten Würdenträger die meiste Zeit über auf, wenn nicht gerade das Silber an die Schiffe übergeben wurde. Audienzen für Kapitäne und Minenvorsteher wurden hier ebenso abgehalten wie die Vorträge der Kundschafter und Säbelwächter und selbst die gemeinsamen Mahlzeiten der Shajs und ihrer Erwählten fanden hier statt, sofern sich die Herrscher nicht in ihre eigenen kleinen Ruhezelte etwas abseits zurückzogen.
Doch zum Ruhen kamen sie kaum.
Saton sehnte sich insgeheim nach seinem kühlen Schlafzimmer in Vas-Zarac und fragte sich, wann er der drückenden Hitze, die dank des sonnenreichen Frühlings im großen Empfangszelt herrschte, endlich entfliehen konnte. Er musste sich beherrschen, dem Bericht der beiden Dunen zu folgen und seine Gedanken nicht abschweifen zu lassen.
„ ...noch etwa zwei bis drei Wochen rechnen. Viel früher sollten wir nicht ablegen, zumal das Wetter draußen auf See noch zu unbeständig ist. Wir liegen also gut im Zeitplan.“ sagte der eine gerade.
Saton nickte geistesabwesend. Im Grunde lief alles zu seiner Zufriedenheit. Sie würden die Sommermonate voll und ganz zum Transport des Silbers nutzen, um dann im Herbst und Winter, der im Süden sehr viel milder war als im Sichelland, die Ritualplätze auf der Insel zu errichten und ein Lager aufzubauen. Alles war von langer Hand und im Detail geplant und sie durften jetzt nicht den Fehler machen und den einen oder anderen Schritt überhastet angehen. Dies den Mitwirkenden dieser Planung klarzumachen, war vielleicht das schwierigste Unterfangen, denn alle brannten darauf, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
„Und wenn die Schiffe in ein paar Wochen zurückkehren, werden die neuen Lieferungen bereits hier bereitstehen. Spätestens zu Beginn des Halos haben wir alles Silber nach Süden geschafft, bis auf den Teil, der hier wie sonst auch verarbeitet wird.“
„Hmmm...“ machte Saton. „Ihr leistet gute Arbeit. Wollt ihr euch nicht eine Pause gönnen?“
Die beiden Dunen sahen sich überrascht an.
„Eine Pause? Herr, wir sind überhaupt nicht müde! Wir können heute noch die gesamten Lieferungen, die gemeldet sind, verladen und...“
„Tut das. Tut das... Ist Wandan schon eingetroffen?“
„Wandan?“ Verwirrt zuckte einer der beiden die Achseln. „Das... das wissen wir nicht, Herr. Wir sollten euch nur von der Verladung berichten, aber wenn ihr es wünscht, ...“
„Nein... nein. Geht ruhig. Schickt mir Beleb herein.“
„Sehr wohl, Herr.“
Es dauerte nicht lange und ein Cas mit kurzgeschorenem Haar und stoppeligem Kinn trat ein. Sofort suchten die Schreiber und Priester, die sich in einer Zeltecke zusammengesetzt hatten, ihre Habseligkeiten zusammen und ließen den Shaj mit dem Krieger allein. Jeder wusste, dass Saton nicht duldete, dass Gespräche zwischen ihm und den Cas belauscht wurden.
„Wandan wird in etwa einer Stunde hier sein.“ meldete Beleb und ließ sich dankbar auf dem Hocker nieder, den Saton ihm anbot. „Er wurde an den Ställen aufgehalten, aber er beeilt sich.“
„Gut. Du glaubst gar nicht, wie zuwider mir das hier ist. Zwei der wichtigsten Ereignisse überhaupt treffen zusammen und ich sollte beiden meine ungeteilte Aufmerksamkeit schenken. Wenn ich hier bin, denke ich, dass meine Anwesenheit in den Kasernen viel nötiger wäre. Kehre ich aber nach Semon-Sey zurück, frage ich mich, was an der Küste vorgeht.“
Beleb lächelte.
„An beiden Orten ist man dankbar, wenn du kommst. Aber an beiden Orten wird auch so gute Arbeit geleistet, dass du dir keine Sorgen machen musst.“
„Du kannst einem Herrscher die Sorge um sein Land nicht nehmen, Beleb. Und einem Vater nicht die Sorge um seine Tochter.“
„Ich weiß, was es heißt, die Verantwortung für ein Kind zu tragen...“
Saton nickte.
„Ja, du kannst mich vielleicht am ehesten verstehen. Wie geht es deinem Sohn? Er wird seine Ausbildung bald beenden, nicht wahr?“
Beleb strahlte.
„Ja, noch dieses Jahr. Er ist einer der Besten seines Jahrgangs.“
„Daran gibt es keinen Zweifel. Ein guter Junge. Er wird es weit bringen.