Das Blut des Sichellands. Christine Boy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christine Boy
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844268690
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ist sie anders. Und sie ist auch nicht wie ihre Mutter. Es ist vielleicht nicht der rechte Zeitpunkt, es zu sagen, denn noch nie klang es unglaubwürdiger als heute... aber ich glaube, dass sie gerade deshalb etwas wirklich Besonderes ist."

      Saton sah überrascht auf.

      "Du nimmst sie in Schutz. Das freut mich. Dass du sie magst. Aber warum tust du es? Gerade jetzt?"

      "Ist das so schwer zu verstehen? Gerade jetzt... hat sie uns enttäuscht. Und gerade jetzt beweist sie wieder einmal ihren Willen. Sie hat sich nicht entschuldigt. Sie hat dich heute auch nicht noch einmal um ein Gespräch gebeten. Und - soviel muss dir klar sein - sie wird es auch nicht tun."

      "Dann begreife ich deine Worte umso weniger."

      "Denkst du, sie fühlt sich wohl dabei? Sicher nicht. Sie verwendet gerade all ihren Willen darauf, sich selbst einzureden, dass sie im Recht ist. Aber sie ist sicher nicht zufrieden. Sag mir Saton, wie viele schöne Dinge kann sie für sich verbuchen? Wie viele positive Erlebnisse?"

      "Viel zu viele. Alle Welt macht ihr Komplimente und tut was sie will. Sie hat alle Freiheiten..."

      "Nein, das hat sie nicht." fiel Wandan ihm ernst ins Wort. "Sie hat keine Freiheiten. Oder zumindest sehr viel weniger als jeder andere. Und die Komplimente und die Tatsache, dass alle ihr Folge leisten... das ist nichts Angenehmes für sie. Es ist selbstverständlich. Aber ich werde dir sagen, was sie stattdessen hat. Sie hat einen Vater, der stets über ihr steht. Einen wundervollen, verständnisvollen und gutherzigen Vater. Doch sie teilt ihn mit einem ganzen Volk. Und sie hat einen Hofstaat. Untergebene. Aber keine Freunde. Sie hat ein großartiges Zuhause. Eine herrschaftliche Burg. Aber Vas-Zarac ist für sie nur ein Gefängnis. Es ist nicht aufregend oder vielseitig, sondern langweilig. Sie kann nicht wie andere Gleichaltrige in den Wäldern toben oder das Hügelland erkunden. Viel zu gefährlich - für die Tochter des Shajs. Sie erhält von früh bis spät Unterricht und in ihrer Freizeit trainiert sie freiwillig mit dem Säbel. Zumindest bis heute. Aber hast du jemals gesehen, dass sie irgendetwas nur zum Spaß gemacht hat? Hast du sie jemals spielen sehen? Der gestrige Abend war vermutlich eine Art Versuch. Sie hat sich mit Gleichaltrigen getroffen und wollte so etwas wie eine Feier veranstalten, weil sie weiß, dass die Krieger, mit denen sie sich auf eine Stufe stellt, so etwas mögen. Ich will sie nicht in Schutz nehmen, nein. Ich will sie nur verstehen. Sie ist anders als andere Mädchen in ihrem Alter. Sie führt ein anderes Leben und sie ist ein völlig anderer Mensch. Wir können sie nicht behandeln, als wäre sie... normal."

      "Ich habe mich als Kind nicht unglücklich gefühlt..." erwiderte Saton nachdenklich.

      "Du bist in Yto Te Vel aufgewachsen, das ist etwas anderes. Und du hattest auch nicht ihren Charakter."

      "Und trotzdem... Wandan, du selbst hast mich immer wieder angehalten, energischer mit ihr umzugehen. Sie muss manches endlich lernen, daran ändert auch ihre zugegebenermaßen schwierige Situation nichts."

      "Da gebe ich dir völlig recht. Aber erwarte keine Wunder."

      "Das tue ich ganz sicher nicht. Ich lasse mich allerdings auch nicht so einfach erweichen. Dieses Mal bin ich ebenso unnachgiebig wie sie. Ich bleibe bei dem Säbelverbot."

      Wandan lächelte schwach.

      "Ich empfinde dies auch als eine gerechte Strafe für mein Versagen in den letzten Jahren. Es tut mir in der Seele weh, sie im Augenblick nicht weiter ausbilden zu dürfen."

      "Ich habe keinen Grund, dich für irgendetwas zu bestrafen, Wandan. Wahrscheinlich machst du bei ihr weitaus weniger Fehler als ich. Vielleicht das Los eines Vaters. Aber du kannst natürlich auch anderweitig Zeit mit ihr verbringen."

      "Das ist es nicht. Sie ist großartig, das muss ich zugeben. Eigentlich ist sie schon sehr viel weiter als alle, die in diesem Jahr in die Kasernen eingeteilt werden. Wenn es nach mir ginge, würde sie jetzt schon..."

      "Nein. Bis gestern hätte ich noch mit mir darüber lassen. Aber jetzt wird sie sich gedulden müssen. Mindestens bis zum Frühling. Dann ist sie fünfzehn und... nun, wenn es denn ihr Weg ist und du es unterstützt, dann soll es eben so sein. Doch ich verbiete dir, ihr etwas davon zu sagen. Wenn Lenyca erfährt, dass sie anderthalb Jahre früher als alle anderen die Säulenweihe erhält, wird sie sich womöglich noch mehr einbilden. Das will ich auf jeden Fall vermeiden."

      Sie lag immer noch am Boden. Es war später Abend und in diesem Teil Vas-Zaracs herrschte wie zumeist absolute Stille.

      Der Nebel war fort. Und mit ihm die Stimme.

      Sie hatte Recht gehabt. Die Stimme.

      Du wirst lernen, Ehrfurcht zu haben.

      Sie hatte es gelernt.

      Du wirst um Verzeihung bitten.

      Das hatte sie.

      Zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie versuchte nicht mehr an die Überwindung zu denken, die es sie gekostet hatte. Und nicht an den Schmerz, der sie schließlich so weit gebracht hatte. Und sie versuchte zu vergessen, dass sie ihren Herrn gefunden hatte. Einen, den man nicht beknien konnte, einen, der nicht nachgab und der sich nicht von ihr beeindrucken ließ, in welcher Weise auch immer.

      Saton und Wandan nahmen sich vor, Lenyca in den nächsten Tagen besonders genau zu beobachten, allerdings traf ein jeder diese Entscheidung für sich, ohne sich mit dem anderen darüber zu beraten. Der Shaj wollte prüfen, ob es wirklich so wenig Grund zur Freude im Leben seiner Tochter gab, wie Wandan behauptete, Wandan hingegen wollte herausfinden, ob sich ihr Verhalten in irgendeiner Form verändert hatte.

      Doch bereits am Morgen nach der unschönen Begegnung in Wandans Arbeitszimmer erlebten beide eine Überraschung. Die Tochter des Shajs erschien nicht zum Unterricht und ließ sich auch sonst nirgends in der Festung blicken. Die Reitstunde war freiwillig, sie musste nicht daran teilnehmen und somit erschien ihr Fehlen zwar als seltene, aber durchaus denkbare Ausnahme. Wandan machte sich jedoch ein wenig Sorgen, denn Lennys hatte nicht nur tags zuvor auf jegliche Mahlzeit verzichtet, sondern auch heute das Frühstück verweigert. War die Sijakwirkung so nachhaltig gewesen oder gab es andere Gründe?

      Saton allerdings witterte unnachahmlichen Trotz. Machte Lennys sich nicht selbst das Leben schwer? Hatte nicht ihr eigenes Verhalten einen sehr großen Anteil daran, dass die Tage längst nicht so fröhlich verliefen, wie sie es hätten sein können?

      Lennys hatte ihr Zimmer nicht verlassen. Jeder Muskel tat ihr weh und sie hatte in der vergangenen Nacht trotz der bleiernen Müdigkeit kein Auge zugemacht. Zu intensiv hallte der Donner Ash-Zaharrs noch in ihr nach und diesmal schaffte sie es nicht, die unliebsame Erinnerung zu verdrängen.

      Sie kam sich schmutzig und wertlos vor. Sie, eine Ac-Sarr, hatte um Verzeihung bitten müssen. Sie hatte knien und betteln müssen.

      Wie ein Sklave.

      Sie hatte gehorchen müssen.

      Wie ein Tier.

      Niemand sollte jemals davon erfahren. Und niemand sollte sie so sehen. Obwohl sie die Reitstunden mochte und sich nach frischer Luft sehnte, war ihr der Gedanke, das Zimmer zu verlassen, zuwider. Natürlich hätte ihr niemand ansehen können, was geschehen war, aber es gab jemanden, der die Wahrheit schneller erkennen konnte als ihr lieb war. Der einzige Mensch, der möglicherweise einmal ähnliche Erfahrungen gemacht hatte.

      Das Geräusch von vorsichtigen Schritten draußen auf dem Gang ließ sie hochschnellen. Suchte man bereits nach ihr? Wollte man ihr etwa das Fehlen bei der freiwilligen Reitstunde anlasten? Ihr hinterher spionieren? Sie erneut belehren?

      Jemand klopfte zaghaft und gleich darauf wurde die Tür einen Spalt geöffnet.

      „Ich habe nicht 'Herein' gesagt!“ blaffte Lennys den Besucher an.

      „Verzeihung...“ Reichlich zögernd trat Afnan ein. „Ich dachte nur, ihr möchtet vielleicht etwas essen....“

      Ohne aufzusehen, stellte er ein voll beladenes Tablett ab und nahm einen leeren Wasserkrug vom Tisch. Als Lennys ihn nicht weiter beachtete, räusperte er sich und sagte leise:

      „Es tut mir