Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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passieren? Tanja hat es gemocht.“ Sie schwiegen.

      „Was nun?“, fragte sie leise. Magnus sah sie an wie ein waidwundes Tier.

      „Könntest du dir vorstellen, hier mit mir und Stefania zu leben, Holly? Auch um Stefanias willen …“

      „Um wessen willen noch?“, hauchte sie erwartungsvoll und sah ihm – verliebt? – in die Augen.

      „Um meinetwillen?“ Holly kamen wieder die Tränen, doch war der Grund diesmal ein anderer. Sie rutschte auf ihrem Sessel ganz nach vorne. Er rutschte ganz nach vorne. Ihre Knie berührten sich fast. Sie legte eine Hand auf sein Knie, die andere hielt sie vor ihren Mund.

      „Wart ihr glücklich? Tanja und du?“

      „Ja, wir waren glücklich.“

      „Hat sie es gewusst?“

      „Als es offensichtlich wurde, habe ich es ihr gesagt, aber sie hatte so etwas längst geahnt. Weißt du, ihr Volk kennt viele Mythen und sie kam aus einer Familie, die diese alten Mythen lebte. Sie glaubten an Geister und Wunder. Ein Wunder war für Tanja, dass ich sie vor dem Tode bewahrt hatte. Ein Wunder war für sie, dass ich sie bei mir aufnahm. Meine Liebe zu ihr war für sie ein Wunder, und so wunderte sie sich nicht, dass sie älter wurde, nicht aber ich, obwohl ich älter war, äh, älter schien, schon damals. Sie war eine junge Frau. Sie war stolz darauf, mit mir, einem … Freak zusammen zu sein.“

      „Das mit dem Freak tut mir leid.“, warf sie schnell ein.

      „Wir liebten uns, sie war mir in dieser Zeit nach dem Kriege ein großer Rückhalt, wir mussten ja alles wieder aufbauen.“

      „Ich weiß es, bevor ich mich entscheiden soll.“

      „Ja. Beeinflusst es deine Entscheidung?“

      „Wie könnte es eine solche Entscheidung nicht beeinflussen?“

      „Bist du nicht in der Lage, mich dir ohne es vorzustellen?“

      „Ich kannte dich, bevor ich es wusste.“

      „Wie hättest du dich damals entschieden?“

      „Der Abend bei dir hier war sehr schön, bis diese … Sache passierte. Auch der Tag danach war schön. - Hast du eigentlich jemals etwas Böses getan?“, fiel ihr ein zu fragen.

      „Ich habe den Soldaten ohnmächtig geschlagen, der Tanja erschießen wollte.“

      „Irgendwann in deinem Leben?“, beharrte sie.

      „Ich glaube nicht.“

      „Ich auch nicht.“

      „Wie kommst du auf diese Frage?“, fragte er misstrauisch. Sie zuckte die Schultern.

      „Nur so ein Gedanke.“

      „Ich bin ein Mensch.“, behauptete er, weil er eine dunkle Vorstellung von dem hatte, was Holly umtrieb.

      „Sicher.“ Das sagte sie in einem Tonfall, wie Erwachsene einem Kind bestätigen, es hätte ein Monster mit drei Köpfen gesehen, dabei lächelte sie nachsichtig.

      16.

      „Er hätte wenigstens Auf Wiedersehen sagen können.“, maulte Dick.

      „Ja er ist wirklich etwas überstürzt abgereist.“, gab Will zu.

      „Er ist Geschäftsmann. Er hat nicht unbegrenzt Zeit wie ihr Rentner.“, steuerte Kyonna, die mit vor der Brust verschränkten Armen in der Wohnzimmertür stand, bei.

      „Ich war auch Geschäftsmann, habe aber die Regeln der Höflichkeit immer geachtet.“, konterte Dick.

      „Du hast wegen deiner Familienchronik fast dein Antiquariat ruiniert, er hat ein Weltunternehmen!“, erinnerte Kyonna.

      Dick nahm einen Zettel von der Kommode, betrachtete ihn, hielt ihn mal näher, mal weiter von seinen Augen weg, kramte mit der freien Hand in seinem Jackett, holte die laminierten Brieffragmente hervor, die er stets mit sich herumschleppte und hielt die Probe neben den Zettel. „Wer hat das geschrieben?“, wollte er knapp wissen.

      „Ah, das ist die Adresse von Magnus, er hat das aufgeschrieben.“, antwortete Will ahnungslos.

      „Schreib sie ab!“, forderte Dick barsch.

      „Was ist denn mit dir los?“, wollte Will jetzt aber wissen. Dick hielt ihm den Zettel und seinen Talisman hin.

      „Das ist die gleiche Schrift! Ich kenne da einen Graphologen … Ich werde ein Gutachten einholen.“, informierte er rundblickend. Will warf einen Blick auf die Beweisstücke.

      „Ja, das sieht gleich aus. Dann vererbt sich nicht nur das Aussehen, sondern …“

      „Will! Rede kein dummes Zeug. Die ganze Geschichte, die er uns aufgetischt hat, stinkt, und ich werde es beweisen!“

      17.

      Stefania erwachte in ihrem großen, luftigen Zimmer mit der hohen Decke. Die langen Vorhänge konnten nicht verbergen, dass draußen die Sonne schien und wehten leicht im Wind. Stefania war ausgeruht, drückte ihr Stofftier an sich und dachte über die vergangenen Tage nach. Alles verstand sie nicht, vor allem die Sache mit der künstlichen Befruchtung würde sie nachlesen müssen, aber Dad – Dad! – hatte ihr angeboten, seinen Computer benutzen zu dürfen, bis sie auch hier einen eigenen hatte. Das andere war ihr klar. Ihr Vater konnte nicht sterben, grämte sich aber nicht deswegen, lebte aber darum ein recht unstetes Leben und hatte Angst, eine Familie zu haben. Außerdem hatte er heilende Kräfte, was sie ganz praktisch fand, denn dann konnte sie ohne Bedenken Fahrrad fahren lernen. Sie wollte sich mit ihrer Mutter besprechen und rutschte aus dem riesigen Bett, lief gefühlte hundert Meter bis zur Tür, trat auf den Flur, überlegte kurz, wo wohl das Zimmer ihrer Mutter sein mochte, erinnerte sich, öffnete die entsprechende Tür und blickte verwundert auf ein gemachtes Bett und die noch nicht ausgepackten Koffer. Sie schloss die Tür, überlegte wieder und ging mit einem Lächeln zur nächsten Tür. Hier war Magnus‘ Schlafzimmer. Vorsichtig linste sie durch den Türspalt und grinste breit und zufrieden bei dem, was sie sah. Mom und Dad lagen in Dads breitem Bett nebeneinander und schliefen fest. Leise schlich sie zum Bett, kroch behände unter der Decke zwischen den beiden erwachsenen Körpern bis zum Kopfende und legte sich, ihr Stofftier vor der Brust umklammert, selig zwischen ihre Eltern.

      Magnus‘ Rechte ertastete etwas Flauschiges neben sich und er erwachte.

      Hollys Linke ertastete eine wohlbekannte Männerhand neben sich und sie erwachte.

      Stefania war schon wach und fühlte eine zarte weibliche und eine kräftige männliche Hand auf ihrem flauschigen Stofftier umherwandern, sich berühren, sich betasten und sich greifen. Sie sah von rechts nach links und umgekehrt. Zeitgleich schlugen ihre Eltern die Augen auf, sahen erst sich, dann sie an und lächelten.

      „Hallo Kleine.“, sagte Mom.

      „Gut geschlafen?“, fragte Dad.

      Magnus und Holly waren am späten Abend gemeinsam und nachdenklich hinaufgegangen, waren an Magnus‘ Tür kurz stehengeblieben, um sich eine gute Nacht zu wünschen. Holly wollte dies, aufgrund fehlenden Mutes und ihrer Unsicherheit, in Form eines flüchtigen Kusses auf die Wange tun, hatte aber nicht mit der Entschlossenheit von Steffis Erzeuger gerechnet. Der nämlich zog sie an und mit sich in sein Zimmer, wobei er raunte: „Wir sollten aneinander gewöhnen.“ Holly, die an Melissas Bluttransfusion dachte, sich dabei zwar bewusst war, dass sie durchaus schon einmal eine von Magnus‘ Körperflüssigkeiten in sich getragen hatte, die aber, zumindest nach wissenschaftlicher Auffassung, inaktiv, oder sogar tot gewesen war, wogegen allerdings das sehr lebendige kleine Mädchen sprach, das ein paar Räume weiter schlief, zog eine, bei solchen Gelegenheiten vorkommende, Eskalation der Ereignisse durchaus als Risiko in Betracht, gab sich aber dennoch seinem Werben hin, so dass sie, ohne Eskalation, friedlich umarmt einschliefen.

      „Ja, ich habe gut geschlafen.“, flötete Steffi und grinste von ihm zu ihr.