Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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umarmt zu werden, andererseits aber wirkte er ziemlich hilflos. Er hob die Arme, ließ sie wieder sinken, wusste nicht, wohin mit ihnen, bis er sich einen Ruck gab und den kleinen Körper ebenfalls, erst vorsichtig, dann aber mit sanftem Druck umarmte. Er seufzte vor Wohlbehagen.

      All die rationalen Gedanken, die ihn seit je her umgetrieben hatten, und die letztlich Vaterschaften bisher verhindern konnten, traten in den Hintergrund; er gab sich einfach diesem neuen Gefühl hin und fand Gefallen an ihm.

      „Ich habe es gewusst, seit du mich das erste Mal berührt hast.“, flüsterte die Kleine in sein Ohr und er nickte leicht. Laut sagte sie: „Du bist älter als Mom.“, und dachte sich etwas dabei.

      „Ja, das ist wohl so.“, gab er zu.

      „Bist du so alt wie Grandma?“

      „Schön wärs.“, erklärte Kyonna.

      „Noch älter?“ Magnus ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie ein Spiel spielte.

      „Nun ja …“

      „So alt wie Will?“

      „Steffi!“, bemühte Holly erzieherische Methoden.

      Dann sagte eine Weile niemand etwas, was ganz erstaunlich war, denn unter ihnen befand sich schließlich Kyonna, die sonst Mühe hatte, ein paar Minuten zu schweigen. Doch die Frau, die nun auch mit dem Herzen Großmutter sein konnte, und dies auch wollte, saß mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck auf dem Sofa und betrachtete geradezu liebevoll den Vater ihrer Enkeltochter, der Stefania immer noch sanft an sich drückte.

      Holly allerdings sah man an, dass sie mentale Schwerstarbeit leistete. Sie nagte an ihrer Unterlippe, rang die Finger und starrte auf das Teppichmuster. Magnus hingegen schien zu schlafen. Er hatte den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen und sein Mund sah aus, als ob er lächelte. Ruhig hob und senkte sich sein Brustkorb, auf dem Stefanias Oberkörper ruhte, der von dieser Bewegung leicht gewiegt wurde; auch sie hatte die Augen geschlossen und schien zu schlafen.

      Doch das täuschte. Sie tauschten, wenn schon keine Gedanken, so aber doch Gefühle aus. Unbestimmte und unbestimmbare, mit normalen Worten nicht beschreibbare Gefühle, die tief aus ihrem Innersten kamen und jetzt den jeweils anderen erreichten. Normale Menschen hätte diese emotionale Kommunikation wahrscheinlich in den Wahnsinn getrieben, womit kein bösartiger Wahnsinn gemeint ist, sondern eher ein Gefühl unendlichen Wohlbehagens und Friedens mit sich und der Welt, was allerdings die Alltagstauglichkeit solcher Menschen in ähnlicher Weise beeinträchtigt hätte, wie eine handfeste Paranoia oder Phobie. Bei Vater und Tochter führte diese Prozedur allerdings dazu, dass sie sich näher kennenlernten, sich näherkamen, wie zwei Menschen sich nur nahekommen können.

      „Bitte.“, durchbrach Holly die Stille. Kyonna sah ihre Tochter überrascht an, als ob sie vergessen hätte, dass diese auch im Raum war und spitzte die Lippen. Magnus und Stefania schlugen synchron die Augen auf, wie hätte es auch anders sein sollen.

      „Bitte.“, wiederholte Holly und richtete einen flehenden Hundeblick auf den Vater ihrer Tochter. Der lupfte die Kleine etwas an, küsste sie auf die Wange, rutschte auf dem breiten Sessel etwas zur Seite, setzte sich gerade hin und ließ Steffi neben sich sitzen, dann sah er die Mutter seiner Tochter erwartungsvoll an und fragte: „Bitte?“ Kyonna kicherte leise.

      „Kann. Mir. Das. Alles. Mal. Jemand. Erklären?“, fragte sie langsam und betonte jedes Wort mit Gesten.

      „Ist doch ganz einfach.“, erklärte die vorlaute Kyonna gut gelaunt. „Der Typ da hat mal Sex mit mir gehabt, ist der Vater deiner Tochter, ist zweitausend Jahre alt, hat sich aber gut gehalten, er …“ Sie war leiser geworden und brach jetzt mit einem Kopfschütteln ab. Ratlos geworden blickte sie ebenfalls Magnus an.

      „Sag bitte, dass das nicht stimmt.“, hauchte sie ganz kleinlaut. Drei Augenpaare waren jetzt gespannt auf ihn gerichtet. Er sah von einer zur anderen, setzte ein Lächeln auf und sagte: „Nein.“ Erleichtert sanken Kyonna und Holly in die Polster zurück, Steffi hingegen kicherte ein Kinderkichern, wie es Kinder kichern, wenn jemandem ein sanfter Streich gespielt wird. Dies wiederum machte Holly, die ihre Tochter kannte, misstrauisch, so dass sie sich rasch wieder aufrichtete und ihren Körper mit Spannung versah.

      „Was, nein?“, fragte sie sicherheitshalber. Magnus sah sie fröhlich an.

      „Ich sage nicht, dass das nicht stimmt, meine Nase ist lang genug.“ Er kniff Stefania ein Auge zu, was wiederum zu einem Kichern führte.

      „Was hat das mit deiner Nase zu tun?“

      „Kennst du die Geschichte von Pinocchio?“ Holly überlegte.

      „Dann stimmt es doch?“, ließ sie alle Hoffnung matt fahren.

      „Falls ausgeschlossen werden kann, dass du von jemand anderem schwanger geworden warst, stimmt der zweite Teil, für den ersten haben wir eine Zeugin.“

      „Kann ich ausschließen.“, ergab sie sich halb, hatte jedoch noch Hoffnung, was den dritten Teil anbelangte. An andere Teile mochte sie gar nicht denken.

      „Gut.“ Er drückte Steffi an sich. „Dann kannst du Daddy zu mir sagen, falls du möchtest.“ Die Kleine strahlte lückenhaft.

      „Was ist mit dem dritten Teil?“, hauchte Holly und erntete ein ernstes Lächeln.

      „Teil drei und Teil vier treffen zu.“

      „Was ist Teil vier?“, krächzte Kyonna.

      „Hast du schon einmal jemandem in meinem Alter gesehen, der so aussieht, wie ich?“

      Kyonnas Gesicht zuckte in anstrengender Gedankenarbeit, dann lächelte sie, als wäre sie zu einer großartigen Erkenntnis gekommen.

      „Nein.“, verkündete sie.

      „Was, nein?“, wiederholte sich Holly verständnislos.

      „Du wiederholst dich.“, informierte Magnus zurechtweisend, und fügte anmerkend hinzu: „Es gibt wohl keinen anderen, zweitausendjährigen Menschen auf der Welt, der, wie ich, wie Mitte vierzig aussieht.“

      „Sooo alt bist du schon? Ich bin erst fünf.“, bemerkte Steffi und ließ offen, was genau sie meinte, während Mutter und Tochter Bryant erschöpft wiederum in die Polster sanken.

      „Bist du dir wirklich sicher?“, fragte Kyonna mit einem letzten Funken Hoffnung.

      „Ziemlich. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass ich ungefähr um das christliche Jahr Null geboren worden sein muss.“

      „Ich brauche einen Drink.“, hauchte Holly mit scheinbar letzter Kraft.

      „Ich auch.“, krächzte Kyonna.

      „Bringst du mir ein Bier mit?“, fragte Magnus gut gelaunt.

      Holly stand langsam auf und wandelte unsicher in die Küche, holte die Getränke, Whiskey für ihre Mom und sich und Bier für den Mann. Sie tranken.

      Schweigen senkte sich wie Mehltau über die Menschen im Bryantschen Wohnzimmer. Als es dem ungeduldigen Magnus zu viel wurde, beugte er sich vor und bemerkte: „Wir sollten mal überlegen, wie es nun weitergehen soll.“ Er erntete nur leere Blicke.

      „Zum Beispiel, ob wir Will einweihen sollen.“, stellte er klar. Die Augen der Damen weiteten sich vor Schrecken.

      „Um Himmels willen.“, rief Kyonna.

      „Lieber nicht.“, meinte Holly, und fügte erklärend hinzu: „Er würde das wohl gesundheitlich nicht verkraften.“

      „Nun ja, ihr seht auch nicht gerade wie das blühende Leben aus.“, stellte Magnus fest, was ihm böse Blicke einbrachte.

      „Du lügst.“, versuchte es Holly erneut.

      „Ihr müsstet euch mal sehen.“

      „Das meine ich nicht.“

      „Ich habe fast mein ganzes Leben gelogen; jedenfalls, was das anbelangt.“, erwiderte er ernst, „Jetzt bin ich ein