Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
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Steffi überlegte.

      „Mit Lagerfeuer und Bärenfell, und so?“ Magnus lachte und Holly war aufmerksam geworden.

      „Nein, es war völlig unromantisch. Es war dreckig, im Winter kalt, im Sommer voller Viecher und bei Regen nass. Ich bin nämlich ziemlich erdverbunden aufgewachsen. Zumindest die ersten Jahre. Ich habe, wie viele meiner Zeitgenossen, zumindest wie viele, die in unserer Gegend lebten, in einem Erdloch gelebt.“ Mutter und Tochter hatten sich ihm zugewandt, halb aufgerichtet und sahen ihn aufmerksam an. Er sah zurück und lachte.

      „Ja, so war das vor zweitausend Jahren dort, wo ich geboren wurde.“ Stefania verzog das Gesicht.

      „In einem Erdloch?“

      „Ja. Während man anderswo in der Welt schon lange in richtigen Häusern lebte, war das bei uns anders. Meine Heimat war damals recht rückschrittlich.“

      „Hattest du eigentlich Geschwister?“

      „Meine Schwester starb, als sie klein war und mein Bruder wurde von einem Bären gefressen.“

      „Oh.“

      Irgendwo klingelte ein Telefon. Mit den Worten: „Das ist meins.“, stand Holly auf und schwang ihre Beine aus dem Bett, um nach ihrer Tasche zu greifen. Ihr schien es nichts auszumachen, dass sie nackt war. Ihm erst recht nicht.

      „Lass uns ins Bad gehen.“, schlug Magnus seiner Tochter vor und stand ebenfalls auf. Als er stand, merkte er, dass er ebenfalls nackt war und sah Steffi an. Die nahm jedoch nichts zur Kenntnis, sondern stapfte aus dem Zimmer. Mit den Worten „Ich muss mal.“, schlug sie ihm die Badezimmertür vor der Nase zu und er musste unverrichteter Dinge wieder zurück zu Holly, die ihr Telefonat beendet hatte und seltsam dreinschaute.

      „Was ist los?“, wollte er wissen. Sie sah ihm in die Augen.

      „Das war Mom. Der Hobbyforscher hat eine graphologische Untersuchung machen lassen.“

      „Bitte?“

      „Er hat den Zettel gefunden, auf den du deine Adresse geschrieben hast und ihn mit seinem Heiligtum vergleichen lassen.“ Magnus setzte sich aufs Bett. Das war symptomatisch für die letzten Tage, hatte er sich doch geschworen, im Bryantschen Haus nichts aufzuschreiben. Alles war so improvisiert, so unüberlegt, so planlos abgelaufen. Es ärgerte ihn, dass er nur schwer die Kontrolle behalten würde.

      „Dein Großonkel wird langsam lästig.“

      „Mehr sagst du nicht dazu?“ Er zuckte die Schultern.

      „Wenn sich das Aussehen über Generationen vererbt, warum nicht auch die Schrift?“

      „Magnus!“ Holly hob drohend den Zeigefinger, lachte aber dabei.

      „Schon gut.“ Er dachte nach.

      „Was willst du nun tun?“, fragte Holly und setzte sich neben ihn.

      „Ich lade sie ein und sage es ihnen.“ Holly erschrak.

      „Meinst du, das ist eine gute Idee?“

      „Fällt dir was besseres ein? Außerdem können wir ihnen dann auch das andere sagen.“

      „Was sagen?“

      „Dass ihr hierbleibt und dass Steffi meine Tochter ist.“

      „Wir bleiben hier?“, hörten sie von der Tür, in der Stefania aufgetaucht war und sie hoffnungsfroh ansah.

      „Dachte ich so.“, meinte Magnus und sah von Holly zu Steffi.

      „Das ist ja toll!“ Steffi rannte zu ihrem Vater und fiel ihm um den Hals. Der sah ihre Mutter fragend an. Statt etwas zu sagen, nahm Holly die beiden in die Arme.

      „Ich weiß nicht, ob Dicks Herz die ganze Sache verkraftet.“, bemerkte Holly in der Küche, wo sie das Frühstück bereiteten.

      „Welche Sache?“, wollte Magnus wissen.

      „Na ja, zum Beispiel, dass Steffi deine Tochter ist, und das andere.“

      „Ach so.“

      „Hinzu kommt noch der Flug.“

      „Ist er krank?“ Es war noch früh.

      „Das Herz eben.“, gab sie unfachmännisch Auskunft.

      „Wie machst du das eigentlich mit deinen Papieren?“, fragte Holly, als sie dann am Tisch saßen und Magnus sich wunderte, wie viel ein so kleines Mädchen wie Stefania essen konnte.

      „Wie meinst du das?“

      „Was steht da für ein Geburtsdatum? Du musst doch alle paar Jahre ein neues Datum einsetzen. Sind deine Papiere gefälscht?“

      „Schon lange nicht mehr.“, lächelte er. Holly sah in fragend an und sogar Steffi hörte vorübergehend auf zu kauen.

      „Früher konnte ja kaum einer lesen. Also, ich meine, ganz früher, in meiner Jugend.“

      „Wie lange ging die?“, wollte Holly wissen.

      „Gute Frage. So die ersten fünfzehn, zwanzig Jahre meines Lebens. – Und auch danach gab es keine Papiere. Als es die ersten staatenähnlichen Gebilde gab – Fürstentümer und so etwas - , erfand man Passierscheine. Aber zuvor kamen die Kirchenregister, wo sich jeder eintragen lassen musste. Ein paar hundert Jahre war ich viel auf Wanderschaft, so dass es nie dazu kam, dass ich mich eintragen ließ. Nach den Römern kamen die Missionare, und die hatten ihre ganz speziellen Methoden, den Menschen Gott nahe zu bringen. Mit denen wollte ich nichts zu tun haben, aber die waren irgend wann überall. Also spielte ich ihnen einen Streich und ließ mich unter den verschiedensten Namen in viele Register eintragen. Es ging gut.

      Als das finstere Mittelalter begann, verschwand ich für ein paar hundert Jahre von der Bildfläche, danach war ich Magnus Montanus und ein gemachter Mann. Und das hat etwas mit Eis zu tun.“ Er kniff Steffi ein Auge zu. „Es gab dann so etwas wie richtige Staaten mit einem richtigen Passwesen. Ich legte mir alle paar Jahre falsche Papiere zu. Das ging bis vor ungefähr vierzig, fünfzig Jahren, von da ab wurden die Dinger immer fälschungssicherer, es gab elektronische Dateien. Aber ich hatte schon vorher eine erstaunliche Fähigkeit an mir entdeckt.“ Er sah seine zweiköpfige Zuhörerschaft, die mit Spannung weitere Erklärungen erwartete, an.

      „Suggestion.“, sagte er einfach.

      „Was ist das?“, wollte Steffi lispelnd wissen und er sah, dass auch Holly sich nicht viel darunter vorstellen konnte.

      „Nun, sagen wir es einmal so: ich kann bewirken, dass andere Menschen glauben, etwas zu sehen oder zu hören oder zu riechen, das ich möchte, das sie sehen, hören und riechen sollen.“ Hollys Augen verengten sich.

      „Was hat das mit deinen Papieren zu tun?“, fragte sie skeptisch.

      „Hast du gesehen, dass ich bei unseren letzten Flügen einen Pass vorgezeigt hätte?“ Holly dachte nach und schüttelte den Kopf.

      „Habe ich auch nicht, aber die Kontrolleure werden sicher sein, dass ich es getan habe, dabei war es nur ein Stück Pappe, das ich bei mir trage. Das mache ich beim Buchen genauso.“

      „Suggestion?“

      „Suggestion.“

      „Kannst du das auch mit uns machen?“, fragte Holly mit einem eigenartigen Klang in der Stimme.

      „Im Prinzip ja, aber ich tue es nicht.“

      „Warum nicht?“

      „Soll ich meine eigene Tochter hinters Licht führen?“

      „Was ist mit mir?“, wollte erweiternd wissen.

      „Ich liebe dich.“ Jetzt war es raus und Steffi klatschte in die Hände, während Holly ihr Gesicht in ihren vergrub.

      „Du hättest Mom …“

      „Sie hatte schon zu viel gesehen, es ging nicht mehr.“, gab er zu Bedenken.