Der Andere. Reiner W. Netthöfel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reiner W. Netthöfel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737524094
Скачать книгу
Stufen schweren Herzens und mit gemischten Gefühlen hinauf. Hatte er eine Geliebte? Eine Frau? Insgeheim hatte Holly gehofft, ihm näher kommen zu können, aber das war nur ein Traum. Sie hatte ihn wiederholt beleidigt und ihn sogar tätlich angegriffen. Sie schüttelte den Kopf.

      Er saß auf dem schmalen Bett und sah sie erwartungsvoll an, als sie in der offenen Tür erschien und knapp an ihm vorbeisah.

      „Ich … ich … ich will mich entschuldigen.“, stammelte sie.

      „Du entschuldigst dich ein wenig zu oft bei mir.“, stellte er fest.

      „Weil ich manchmal etwas sage … Ich verstehe einiges nicht und du tust nichts, damit ich es begreife.“, rechtfertigte sie sich.

      „Manches verstehe ich auch nicht.“, behauptete er.

      „Das mit dem Freak tut mir leid. Stefania möchte, dass du bleibst.“ Er sah sie an.

      „Möchtest du das auch?“ Er sah in Hollys Gesicht mit der kleinen Stupsnase, dem schönen Mund, den schwarzen Augen, die beinahe traurig und sehnsüchtig blickten, meinte er.

      „Bleib bitte.“, flüsterte sie und senkte den Blick. Magnus stand auf und stellte sich vor Holly.

      „Gerne.“, sagte er nur und hob eine Hand an ihr Gesicht. Sie schloss die Augen, als er ihr sanft über die Wange strich. Die Berührung fühlte sich für Holly an wie ein warmer Windhauch.

      Hoffentlich reist dieser Kerl bald ab, dachte Kyonna. Sie hatte keine Lust mehr, die ganze Zeit auf ihrem Zimmer zu verbringen und sich verstecken zu müssen. Will tut, als sei er der Präsident der Vereinigten Staaten und Steffi scheint ihn zu vergöttern. Nicht mal in seinem eigenen Haus kann man sich frei bewegen. Außerdem musste sie mal. Zornig verließ sie ihr Zimmer. Es war still im Haus. Vielleicht machen sie einen Spaziergang. Trotzdem ging sie leise zum Bad. Sie legte eine Hand auf den Türknauf und drehte ihn. Zu spät erinnerte sie sich, dass sie in der Dusche eben noch Wasser fließen gehört hatte.

      Sie öffnete die Tür zum Bad und erstarrte. Vor ihr stand ein nackter Mann. Nicht, dass sie nicht gerne nackte Männer betrachtet hätte. Sie sah sogar sehr gerne nackte Männer. Auch wenn sie, wie dieser, weiß waren. Aber diesen Mann kannte sie. Sie kannte diesen Körper. Kannte die runde Narbe auf der linken Schulter. Kannte die kleine, längliche Narbe an der rechten Schläfe. Kannte diesen Penis, der schon mal in ihr drin gewesen war. Kannte jedes Haar seiner Brustbehaarung, kannte diese breiten Schultern, diesen flachen Bauch. Kannte jedes Muttermal. Es verschlug ihr den Atem und sie klammerte sich an das Türblatt. Diesen Augenblick hatte sie vermeiden wollen, denn er war geeignet, Dicks Theorie, wenn nicht zu bestätigen, so doch, zumindest teilweise, nahezulegen.

      Auch Magnus hatte es die Sprache verschlagen. Er kannte diese Frau Mitte vierzig, die aber jünger aussah. Sie hatte immer noch eine tolle Figur, nur das Gesicht hatte Falten bekommen, die es aber sehr reizvoll machten. Wenn das Hollys Mutter war, hatte er jetzt ein Problem.

      Ende der Achtziger. Ein New Yorker Club. Viele Menschen. Auf der Bühne tanzten die, die sich zeigen wollten, und diese Frau konnte sich sehen lassen. Kaum bekleidet tanzte sie rhythmisch zu dem Beat der Musik. Ihr athletischer Körper bog sich hin und her. Die schweißnasse, schwarzsamtene Haut überzog ihre Muskeln, Sehnen und Knochen, deren Spiel sich unter ihr abzeichneten. Ihr grell geschminktes Gesicht sah herausfordernd in die Menge. Bis sie ihn sah. Sie starrte ihn an, tanzte weiter. Machte eindeutige Gesten, tanzte von der Bühne herab und zu ihren Freundinnen. Tuschelte mit ihnen und deutete auf ihn, den scheinbar zwanzig Jahre älteren Mann. Tanzte auf ihn zu, schmiegte ihren atemberaubenden Körper an seinen im Rhythmus der Musik. Er war nicht betrunken, konnte gar nicht betrunken werden, aber er war besoffen von ihrem Körper, ahnte ihre perfekten Brüste unter diesem Nichts von Bikinioberteil, ahnte ihren straffen, kleinen Po und ihre überwältigenden Beine unter der zerfetzten Jeans. Sah ihre großen Kinderaugen, die ihn verführerisch ansahen, ihre weißen Zähne hinter den vollen, glänzenden Lippen.

      Sie fanden sich in einem ihm fremden Bett in einem ihm fremden Schlafzimmer in einer ihm fremden Wohnung ihm fremder Leute wieder und bumsten die ganze Nacht. Mit Kondom.

      Er war schwach geworden. Das erste Mal seit Tanjas Tod.

      Er war in seinem langen Leben relativ selten schwach geworden und war sich ziemlich sicher, keine Nachkommen gezeugt zu haben, denn dieses Wagnis wollte er nicht eingehen. Er fand den Gedanken, seine eigenen Nachkommen zu überleben, schrecklich. Doch er hatte nicht mit dem Einfallsreichtum der Damen Bryant gerechnet.

      Die Folge davon war Stefania.

      Kyonnas Gesicht war grau geworden. „Du hast dich nicht verändert.“, hauchte sie. Er lachte, was ein wenig gekünstelt klang.

      „Sie verwechseln mich, ich kenne Sie nicht.“ Kyonna schüttelte den Kopf und trat näher. Sie legte einen Zeigefinger auf seine linke Schulter, dann an seine rechte Schläfe. Dann nahm sie seinen Penis in die Hand, der sofort fest wurde.

      „So etwas vererbt sich nicht.“, behauptete sie mit ihrer heiseren Stimme. Magnus wusste, wann er aufzugeben hatte; diese Schlacht hatte er wohl verloren.

      „Ich bin älter geworden.“, versuchte er eine schwache Verteidigung, wohl ahnend, dass dieser Satz diesbezüglich zwecklos war. Kyonna starrte ihn entgeistert an.

      „Rede keinen Blödsinn. Es ist sechsundzwanzig Jahre her und du siehst genau so aus wie damals.“, schrie sie. „Genau so. Du müsstest über sechzig, vielleicht siebzig sein.“ Sie packte ihn bei den Schultern und drehte ihn zum Spiegel. „So sieht niemand aus, der siebzig ist.“, ereiferte sie sich. Er zuckte die Schultern und sah weg. Holly hatte Kyonnas laute Worte gehört, war dem nachgegangen und war nun hinter ihre Mutter getreten und sagte etwas.

      „Bitte?“, fragte Kyonna. Holly räusperte sich.

      „Was ist hier los? Warum schreist du, Mom? Warum ist Magnus nackt?“ Kyonna drehte sich zu ihrer Tochter um und zeigte auf Magnus, indem sie wiederum den Mann ansah.

      „Ich hab mal mit dem da gefickt.“ Holly blickte erschrocken erst ihre Mutter, dann Magnus an. Wie passte das denn jetzt zusammen? Kyonna lachte freudlos und schüttelte den Kopf.

      „Nein, er ist nicht dein Vater, obwohl es von der Zeit her passen könnte, ist nämlich sechsundzwanzig Jahre her.“, erklärte Kyonna. Holly überlegte.

      „Hast du gewusst, wer er ist?“, wollte ihre Tochter gedankenlos wissen.

      „Damals nicht. Ich war stoned und hatte das nicht auf dem Schirm. Am Tag danach ist es mir aufgegangen. In diesem Haus kommt man ja seit Jahrzehnten nicht an ihm vorbei. Deshalb bin ich ja auch gegen den ganzen Quatsch gewesen.“ Holly sah den nackten Mann an. Wieso sagt Mom, dass man in diesem Haus an ihm nicht vorbeikam?

      „Und du? Hast du es gewusst?“, fragte sie den Nackten. Er zog sich, scheinbar gleichgültig, an.

      „Was?“, wollte er wissen.

      „Dass du mit meiner Mutter …“, erläuterte sie ohne Sinn.

      „Damals warst du noch nicht geboren.“, erinnerte er. „Kyonna war also noch nicht deine Mutter. Und nein. Wir haben damals keine Namen ausgetauscht.“ Er hatte seine Selbstsicherheit anscheinend wiedergefunden.

      „Es war in einem Club; gefickt haben wir dann bei Freunden von mir.“, ergänzte Kyonna ein Detail. Holly schaute von ihrer Mutter zu Magnus und zurück.

      „Freut ihr euch denn gar nicht, euch wiederzusehen?“

      „Würdest du dich freuen, jemanden zu sehen, der dir alleine durch seine Anwesenheit alle deine Mängel deutlich macht?“, fragte Kyonna ärgerlich.

      „Wie soll ich das verstehen?“, fragte Holly verständnislos.

      „Er sieht genauso aus, wie vor sechsundzwanzig Jahren. Haargenauso.“, ereiferte sich Hollys Mutter. Holly begriff schlagartig Unbegreifliches und Onkel Dick klopfte leise von innen an ihre Schädeldecke.

      „Vielleicht war es ja sein Vater, die sehen sich doch alle