Nachdem der Adler Fliegen gelernt hatte, übte er sich auch, Fische und Frösche zu fangen, bald begann er aber auch darüber nachzugrübeln. »Woher kommt es, daß ich von Fischen und Fröschen lebe?« fragte er. »Das tut ja keins von meinen Geschwistern.« – »Das kommt daher, weil ich dir keine andere Nahrung bringen konnte, als du da oben auf dem Felsvorsprung lagst,« sagte Akka. »Aber deswegen brauchst du dich nicht zu grämen! Du wirst trotzdem ein tüchtiger Vogel werden!«
Als die Wildgänse ihre Herbstreise antraten, flog Gorgo mit ihrer Schar. Er betrachtete sich beständig als zu ihnen gehörig. Aber die Luft war voll von Vögeln, die sich auf dem Wege nach Süden befanden, und es entstand eine große Bewegung unter ihnen, als Akka mit einem Adler in ihrem Gefolge erschien. Scharen von Neugierigen umkreisten fortwährend das Volk der Wildgänse und gaben ihre Verwunderung kund. Akka bat sie, zu schweigen, aber es war unmöglich, so viele böse Zungen im Zaum zu halten. »Warum nennen sie mich einen Adler?« fragte Gorgo wieder und wieder. Er fühlte sich tief beleidigt. »Können sie denn nicht sehen, daß ich eine Wildgans bin? Ich bin kein Vogelräuber, der seinesgleichen auffrißt! Wie kommen sie nur einmal auf den Einfall, mir einen so häßlichen Namen zu geben?«
Eines Tages flogen sie über einen Bauerhof hin, wo eine Menge Hühner auf dem Misthaufen scharrten. »Ein Adler! Ein Adler!« riefen alle Hühner und liefen davon, um Schutz zu suchen. Gorgo aber, der von den Adlern immer als von wilden Bösewichtern hatte reden hören, vermochte seinen Zorn nicht zu meistern. Er faltete die Flügel zusammen, stieß mit Blitzesgeschwindigkeit hinunter und schlug die Fänge in eins von den Hühnern. »Ich will dich lehren, daß ich kein Adler bin!« rief er wütend und hieb mit dem Schnabel auf sein Opfer ein.
Im selben Augenblick hörte er Akka hoch oben aus der Luft nach ihm rufen; er gehorchte sofort und flog hinauf. Die alte Wildgans kam ihm entgegengeflogen und erteilte ihm eine Züchtigung. »Was fällt dir ein?« rief sie, während sie mit dem Schnabel nach ihm schlug. »Hattest du etwa die Absicht, das arme Huhn zu zerreißen? Du solltest dich schämen!« Als aber der Adler die Züchtigung, ohne sich zu wehren, hinnahm, erhob sich unter den großen Vogelscharen ringsumher ein Sturm von Hohn und spöttischen Bemerkungen. Der Adler hörte es und wandte sich mit einem zornigen Blick gegen Akka, wie wenn er sie anfallen wolle. Aber er änderte schnell sein Vorhaben, warf sich mit starkem Flügelschlag in die Luft hinaus, stieg so hoch empor, daß kein Ruf ihn erreichen konnte, und segelte da oben umher, so lange die Wildgänse ihn noch sehen konnten.
Drei Tage später erschien er wieder in der Schar der Wildgänse.
»Jetzt weiß ich, wer ich bin,« sagte er zu Akka. »Und wenn ich ein Adler bin, so muß ich auch leben, wie es sich für einen Adler geziemt, aber deswegen, meine ich, können wir doch gute Freunde bleiben. Dich oder eine aus deiner Schar werde ich niemals angreifen.«
Aber Akka hatte ihren ganzen Stolz darin gesetzt, daß es ihr gelingen würde, einen Adler zu einem frommen und friedlichen Vogel zu erziehen, und sie konnte sich nicht darin finden, daß er auf seine eigene Art leben wollte. »Glaubst du, daß ich Freundschaft mit einem Vogelräuber halten werde?« sagte sie. »Lebe so, wie ich es dich gelehrt habe, dann darfst du, wie bisher, mit unserer Schar fliegen.«
Sie waren beide stolz und unbeugsam, und keines von beiden wollte nachgeben. So endete es denn damit, daß Akka dem Adler verbot, sich in ihrer Nähe blicken zu lassen, ja, sie war so böse auf ihn, daß niemand es wagte, in ihrer Gegenwart seinen Namen zu nennen.
Seit dieser Stunde zog Gorgo im Lande umher, einsam und von allen gescheut, wie es große Räuber sind. Ihm war oft finster zu Sinn, und sicherlich sehnte er sich gar manches Mal nach der Zeit zurück, wo er sich für eine Wildgans gehalten und mit den munteren jungen Gösseln gespielt hatte. Unter den Tieren erlangte er einen großen Ruf wegen seines Mutes und seiner Kühnheit. Sie pflegten zu sagen, er fürchte sich vor niemand außer vor seiner Pflegemutter, Akka. Sie wußten auch von ihm zu erzählen, daß er sich nie an einer Wildgans vergriffen habe.
In Gefangenschaft.
Gorgo war erst drei Jahre alt und hatte noch nicht daran gedacht, sich eine Frau zu nehmen und einen Hausstand zu begründen, als er eines Tages von einem Jäger gefangen und nach dem Freiluftmuseum Skansen verkauft wurde. Dort waren bereits zwei Adler. Sie wurden in einem Käfig aus eisernen Stangen und Stahldraht gefangen gehalten. Dieser Käfig stand im Freien und war so groß, daß man darin ein paar Bäume hatte pflanzen und einen ziemlich hohen Hügel aus Steinen errichten können, damit die Adler sich dort heimisch fühlen sollten. Trotz alledem aber gediehen die Vögel nicht. Sie saßen fast den ganzen Tag regungslos auf demselben Fleck. Ihr schönes, dunkles Federkleid war zerzaust und glanzlos, und ihre Augen starrten mit hoffnungslosem Sehnen in die Luft hinaus.
In der ersten Woche, nachdem Gorgo in die Gefangenschaft geraten war, fühlte er sich noch kräftig und lebendig, allmählich aber befiel ihn eine dumpfe Schlaffheit. Er blieb still auf demselben Fleck sitzen wie die anderen Adler, starrte in die Luft hinaus, ohne etwas zu sehen und wußte nichts davon, daß die Tage vergingen.
Eines Morgens, als Gorgo wie gewöhnlich in seinem Halbschlaf da saß, hörte er, daß ihn jemand außerhalb des Käfigs anrief. Er war so stumpfsinnig, daß er sich kaum entschließen konnte, die Augen dahin zu wenden, woher der Laut kam. »Wer ruft mich?« fragte er. – »Aber, Gorgo, kennst du mich denn nicht mehr? Ich bin es ja, Däumling, der mit den Wildgänsen flog.« – »Ist Akka auch gefangen?« fragte Gorgo in einem Ton, als strenge er sich an, nach einem langen Schlaf seine Gedanken zu sammeln. – »Nein, Akka und der weiße Gänserich und die ganze Schar fliegen jetzt wahrscheinlich wohlbehalten oben in Lappland herum,« antwortete der Junge. »Nur ich bin hier gefangen.«
Während der Junge sprach, sah er, daß Gorgo den Blick von ihm abwandte und in die Luft hinausstarrte so wie vorher. »Königsadler!« rief der Junge. »Ich habe nicht vergessen, daß du mich einmal zu den Wildgänsen zurückgetragen und daß du das Leben des weißen Gänserichs geschont hast. Sage mir doch, ob ich dir nicht auf irgendeine Weise helfen kann!« Gorgo erhob kaum den Kopf. »Störe mich nicht, Däumling!« sagte er. »Ich sitze hier und träume, daß ich frei oben in der Luft umherschwebe. Ich mache mir nichts daraus, zu erwachen.« – »Du solltest dich ein wenig bewegen und achtgeben, was um dich her vorgeht,« ermahnte der Junge, »sonst, fürchte ich, wirst du bald ebenso elendig aussehen wie die anderen Adler.« – »Ich wollte, ich wäre schon so wie die. Sie gehen so völlig in ihren Träumen auf, daß sie nichts mehr stören kann,« sagte Gorgo.
Als die Nacht anbrach und alle Adler schliefen, vernahm man ein leises Kratzen an dem Stahldrahtnetz, das den Käfig überdachte. Die beiden alten, stumpfsinnigen Gefangenen ließen sich nicht durch das Geräusch stören, Gorgo aber erwachte. »Wer ist da? Wer ist da oben auf dem Dach?« fragte er.
»Ich bin es, Gorgo, – Däumling!« antwortete der Junge. »Ich sitze hier und feile den Draht durch, damit du hinausfliegen kannst.«
Der Adler hob den Kopf und konnte in der hellen Nacht sehen, wie der Junge dasaß und an dem Netz feilte, das über den Käfig gespannt war. Einen Augenblick huschte ein Schimmer von Hoffnung über sein Gesicht, gleich aber gewann die Hoffnungslosigkeit wieder die Überhand. »Ich bin ein großer Vogel, Däumling,« sagte er. »Wie glaubst du nur, daß du so viele Maschen durchfeilen kannst, daß ich entweichen könnte? Es ist am besten, wenn du aufhörst und mich in Frieden läßt.« – »Schlafe du nur weiter und kümmere dich nicht um mich!« erwiderte der Junge. »Ich werde weder heute nacht noch morgen nacht fertig, aber ich will trotzdem versuchen, dich zu befreien, denn hier gehst du ja ganz zugrunde.«
Gorgo schlief wieder ein, aber als er am nächsten Morgen erwachte, sah er gleich, daß eine Menge Maschen durchgefeilt waren. An dem Tage fühlte er sich gar nicht so schläfrig wie an den vorhergehenden Tagen. Er schlug mit den Flügeln und hüpfte auf den Ästen der Bäume umher, um die Steifheit aus den Gliedern zu