Der Gänserich war auf keinen gefährlicheren Feind als auf eine Eule gefaßt gewesen, und nun sah er ein, daß er wohl kaum mit dem Leben davon kommen würde. Aber es fiel ihm auch nicht einen Augenblick ein, daß es ein Unding war, sich auf einen Kampf mit einem Vogel einzulassen, der so viel stärker war als er.
Der Adler schoß auf eine Möwe nieder und schlug die Fänge in sie. Ehe er wieder aufsteigen konnte, kam der Gänserich Martin gefahren. »Laß sie los!« rief er. »Und komm nie wieder hierher, sonst kriegst du es mit mir zu tun!« – »Was für ein Tollkopf bist denn du?« fragte der Adler. »Ein Glück für dich, daß es nicht meine Gewohnheit ist, mit Gänsen zu kämpfen. Sonst würde es bald aus sein mit dir!«
Der Gänserich Martin glaubte, daß sich der Adler zu gut halte, mit ihm zu kämpfen und fuhr auf ihn ein, biß ihn in die Kehle und schlug ihn mit den Flügeln. Darin konnte sich der Adler natürlich nicht finden, er schlug wieder, doch nicht mit voller Kraft.
Der Junge lag und schlief an derselben Stelle wie Akka und die Wildgänse, als er Daunenfein rufen hörte: »Däumling! Däumling! Der Gänserich Martin ist kurz davor, von einem Adler zerrissen zu werden!« – »Laß mich auf deinem Rücken sitzen, Daunenfein, und bringe mich zu ihm!« sagte der Junge.
Als er zur Stelle kam, war der Gänserich Martin blutig und übel zugerichtet, aber noch im vollen Kampf. Der Junge konnte nicht mit dem Adler kämpfen, und da war nichts weiter zu machen, als bessere Hilfe zu schaffen. »Auf und davon, Daunenfein!« rief er. »Hole Mutter Akka und die Wildgänse!« In demselben Augenblick, als er das sagte, hielt der Adler auf zu kämpfen. »Wer spricht da von Akka?« fragte er. Und als er nun Däumling erblickte und die Wildgänse gackern hörte, hob er die Schwingen. »Sage Akka, ich hätte nicht gedacht, sie oder irgend jemand von ihrer Schar hier draußen auf dem Meere zu treffen!« sagte er und entschwand in schönem und schnellem Flug. – »Das war ja der Adler, der mich einmal zu den Wildgänsen zurücktrug,« sagte der Junge und sah ihm verwundert nach.
Die Wildgänse hatten die Absicht, rechtzeitig von der Schäre fortzuziehen, vorher aber wollten sie doch ein wenig weiden. Während sie umhergingen und fraßen, kam eine Bergente zu Daunenfein heran. »Ich soll von deinen Schwestern grüßen,« sagte sie. »Sie wagen nicht, sich unter den Wildgänsen sehen zu lassen, aber sie baten mich, dich daran zu erinnern, daß du die Schäre nicht verlassen dürftest, ehe du den alten Fischer besucht hast.« – »Das ist ja wahr,« sagte Daunenfein, aber sie war so bange geworden, daß sie nicht allein dahin zu gehen wagte. Sie bat den Gänserich und Däumling, sie nach der Hütte zu begleiten.
Dort stand die Tür offen. Daunenfein ging hinein, während die beiden anderen draußen blieben. Gleich darauf hörten sie Akka das Signal zum Aufbruch geben, und sie riefen Daunenfein. Die Graugans kam aus der Hütte heraus und flog mit den Wildgänsen von der Klippe fort.
Sie waren ein gutes Stück in die Schären hinausgekommen, als Niels verwundert die Graugans betrachtete, die mit ihnen gekommen war. Daunenfein flog sonst so leicht und lautlos. Diese aber arbeitete sich mit schwerem, brausendem Flügelschlag vorwärts. »Kehre um, Akka!« rief er sofort. »Da ist eine fremde in der Schar! Wir haben Flügelschön mitbekommen!«
Kaum hatte er das gesagt, als die Graugans einen so häßlichen und wütenden Schrei ausstieß, daß niemand daran zweifeln konnte, wer sie war. Akka und die anderen wandten sich nach ihr um, sie aber floh nicht sofort. Statt dessen stürzte sie auf den großen Weißen los, packte Däumling und flog mit ihm im Schnabel davon.
Nun folgte eine hitzige Jagd über den Schären. Flügelschön flog schnell, aber die Wildgänse waren ihr hart auf den Fersen, und sie hatte nicht die geringste Aussicht zu entkommen.
Plötzlich sahen sie einen feinen, weißen Rauch unten vom Meer aufsteigen, und der Knall eines Schusses ertönte. In ihrem Eifer hatten sie nicht bemerkt, daß sie gerade über einem Boot waren, in dem ein Fischer saß.
Niemand wurde jedoch von dem Schuß getroffen, aber gerade mitten über dem Boot öffnete Flügelschön den Schnabel und ließ Däumling ins Wasser fallen.
XXXVI. Stockholm
Sonnabend, 7. Mai.
Vor einigen Jahren wohnte auf »der Schanze«, in dem großen Park bei Stockholm, wo man so viele merkwürdige Dinge gesammelt hat, ein altes Männchen namens Klement Larsson. Er stammte aus Helsingland und war nach der Schanze gekommen, um Volkstänze und andere alte Melodien auf seiner Violine zu spielen. Als Spielmann trat er hauptsächlich des Nachmittags auf, am Vormittag hatte er in der Regel die Aufsicht in einem der kleinen Bauerhäuser, die aus allen Teilen des Landes nach der Schanze geschafft sind.
Zu Anfang fand Klement, daß er in seinen alten Tagen besser gestellt sei, als er es sich jemals hatte träumen lassen, aber nach einiger Zeit fing er an, sich entsetzlich zu langweilen, namentlich wenn er die Aufsicht führen sollte. Es ging allenfalls an, wenn Leute kamen, um das Haus anzusehen, aber es konnte geschehen, daß Klement viele Stunden ganz allein dasaß. Dann befiel ihn ein solches Heimweh, daß er fürchtete, er werde sich gezwungen sehen, seine Stellung aufzugeben. Er war aber sehr arm und wußte, daß er daheim ins Armenhaus kommen würde. Daher suchte er so lange wie möglich auszuhalten, obwohl er mit jedem Tage, der verging, unglücklicher wurde.
Eines schönen Nachmittags in den ersten Maientagen hatte Klement einige Stunden frei und war auf dem Wege, der über einen steilen Hügel von der Schanze abwärts führt, als er einem Schärenfischer begegnete, der einen Kasten auf dem Rücken trug. Es war ein junger, rüstiger Mann, der nach der Schanze zu kommen pflegte, um Seevögel feilzubieten, die er lebendig gefangen hatte, und Klement hatte schon oft mit ihm geplaudert.
Der Fischer hielt Klement an, um zu fragen, ob der Vorsteher auf der Schanze zu Hause sei, und als Klement hierauf geantwortet hatte, fragte er seinerseits, was denn der Fischer in seinem Kasten habe. »Du darfst sehen, was ich habe,« sagte der Fischer, »wenn du mir dafür einen guten Rat geben und mir sagen willst, was ich für meinen Fang fordern kann.«
Er reichte Klement den Kasten. Der guckte erst einmal hinein und dann noch einmal und zog sich darauf schleunigst ein paar Schritte zurück. »Was in aller Welt ist denn das, Asbjörn?« fragte er. »Wo hast du den gekapert?«
Er mußte daran denken, daß ihm seine Mutter, als er noch klein war, von den »Männlein« erzählt hatte, die unter dem Estrich der Scheune wohnten. Er durfte nicht weinen und nicht unartig sein, denn dann wurden die Männlein böse. Als er erwachsen war, glaubte er, die Mutter habe dies mit den Männlein ersonnen, um ihn in Schock zu halten. Das war also nicht der Fall gewesen, denn dort in Asbjörns Kasten lag so ein Männlein.
Es war etwas von der Angst des Kindes bei Klement zurückgeblieben, und es lief ihm kalt den Rücken hinab, sobald er in den Kasten sah. Asbjörn merkte, daß er bange war, und fing an zu lachen, Klement aber nahm die Sache sehr ernst. »Erzähle mir doch, wo du ihn gefunden hast, Asbjörn,« sagte er. – »Ich habe ihm nicht aufgelauert,« sagte Asbjörn, »er ist zu mir gekommen. Ich fuhr heute morgen in aller Frühe hinaus und nahm meine Flinte mit ins Boot. Kaum war ich auf offener See, als ich einige Wildgänse erblickte, die mit lautem Geschrei von Osten kamen. Ich sandte ihnen einen Schuß nach, traf aber keine. Statt dessen stürzte dieser kleine Kerl herab und fiel so dicht bei dem Boot ins Wasser, daß ich nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu fangen.« – »Du hast ihn doch nicht verletzt, Asbjörn?« – »Nicht die Spur, er ist munter und gesund. Aber gleich nachdem er angeflogen kam, war er nicht bei Besinnung, und das benutzte ich, um ihm Hände und Füße mit einem Stück Bindfaden zusammenzubinden, damit er mir nicht entfliehen sollte. Denn ich dachte mir ja gleich, daß es etwas für die Schanze sein würde.«
Während der Fischer erzählte, wurde Klement merkwürdig unruhig. Alles, was er in seiner Kindheit von den Männlein gehört hatte, von ihrer Rachsucht gegen Feinde und ihrer Güte gegen Freunde, fiel ihm wieder