Jo, inzwischen wieder klar, reinigte die Wunde, desinfizierte sie und klebte ein großes Pflaster darüber. Beide Frauen brachten den betrunken Schwankenden unter beträchtlichen Schwierigkeiten ins andere Zimmer zum Bett.
„Petra!“, flüsterte er noch und fiel in unruhigen Schlaf, während beide Frauen, besorgt um ihn, sich zu ihm legten.
Ihr Gang hatte ihn aufmerken lassen. An ihrem Gang hatte er sie erkannt. Um ein Haar wäre Michael seiner ehemaligen Tänzerin Ulla in die Arme gelaufen. In dieser großen Stadt geradezu ein Wunder. Nachdem er sie vor ein paar Wochen in einer Vorstellung am Theater des Westens gesehen und danach getroffen hatte, wäre es anständig gewesen sich wieder zu melden. Schnell verzog er sich in eine Schaufensterecke am Kuhdamm und beobachtete von dort aus, wie sie einen Bekannten traf und mit ihm weiterging. Überaus erregt löste sich Michael langsam aus der Ecke, um dann nachdenklich weiter zu schlendern.
Ulla - ein neuer Musicalstar? - Sie hatte den Absprung geschafft und war auf dem besten Weg dazu, es zu werden.
Michael konnte nicht so recht froh sein über seine reflexartige Reaktion. Er schämte sich jetzt, er hatte sich vor seiner ehemaligen Tänzerin versteckt, - aber wie hätte er ihr erklären können ...
„Zu dumm! - Ich bin zu dämlich!“, klagte er sich an. Er mochte Ulla. - Und Ulla würde ihn vielleicht sogar verstehen, sie kannte ihn gut.
„Ach Quatsch! Verdammt, sei nicht so sentimental, fang endlich an zu schreiben!“, schimpfend ging er in ein Geschäft für Büroartikel und kam nach einiger Zeit tatsächlich mit einer Reiseschreibmaschine und dem nötigen Papier wieder heraus. Er leistete sich ein Taxi und saß kurz danach vor einem eingespannten, leeren Blatt am einzig vernünftigen Tisch der Wohnung, in Jos Küche.
Wie sollte er beginnen? Lange saß er vor dem weißen, leeren Blatt und starrte es an, als würden die Worte von allein auftauchen, während flüchtige Bilder mit ihm zu spielen schienen. Sein Kopf war keinesfalls leer, aber es ließ sich kein Gedanke fassen. Jeder Versuch zu formulieren schlug fehl und brachte nur neue Erinnerungen hervor.
Michael war sich über die Form dessen, was er zu schreiben gedachte, noch nicht im Klaren. Er wollte aus seiner eigenen Sicht schreiben. Vielleicht sollte er in seiner Geschichte auch der Erzähler werden. Er stritt mit sich selbst.
Hatte er überhaupt das Talent, sich als Schreibender auszudrücken? Gaben das Tänzerdasein und seine persönlichen Erlebnisse genügend Stoff für einen Roman?
Selbstzweifel machten den Einstieg für ihn noch problematischer. Ähnliche Situationen kannte Michael nur zu gut.
Auch dies war eine seiner Erinnerungen, quälende Stunden vor dem Spiegel des Ballettsaals, mit einer vagen Idee im Kopf einen Anfang suchend: Immer wieder Musik hören, Bewegungsansätze ausprobieren, wieder verwerfen, Skizzen entwerfen, in seinen Notizen blättern, weitere hinzufügen, bis die Zeit oft zu knapp wurde, und sich noch immer kein Anfang formen wollte. Aber er kannte eben auch das Gefühl, wenn es lief. Endlich den Anfang gefunden, sprudelten die Ideen dann nur so aus ihm heraus und er war oft nicht in der Lage, sie schnell genug festzuhalten, um nicht die Hälfte wieder zu vergessen.
Ulla kam ihm erneut in den Sinn. Die mollige Ulla, damals erfüllt von der Idee, Ballerina zu werden. Mit aller Kraft wollte sie es erreichen.
Eine mittelmäßige klassische Tänzerin, deren Körperbau es ihr schon unmöglich machte, wollte unbedingt Ballerina werden.
Ein Glück, dass er ihre wahren Fähigkeiten erkannt hatte, ihr damals helfen konnte und ihr die richtige Richtung wies.
Jetzt war sie wirklich auf dem besten Weg zum Musicalstar!
Die Tänzer, welche er verloren hatte, - so auch Ulla, - und die vielen anderen, die gesamte Gruppe, er hatte sie geliebt, er hatte seine Tänzer geliebt!
Vielleicht war er selber zu sehr Tänzer geblieben, selbst als Ballettdirektor war er noch Tänzer geblieben.
Es gab da etwas, das er nie gänzlich ablegen konnte.
Langsam begann er zu schreiben:
Tänzer - wirbelnde Blätter im Wind,
von Bäumen deren Wurzeln in den Himmel ragen,
- entwurzelte Körper,
glücklich, wenn schwerelos.
Tanz - auch tragisch, weil augenblicklich,
ohne Wiederkehr,
entgleitend im schönsten Moment.
Die Zeit der Tänzer
Verbannte Gefühle, Bilder und Erinnerungen drängten in sein Bewusstsein. Mit äußerster Willenskraft kämpfte Michael um Worte, bis seine Hände immer hastiger über die Tasten flogen und er fast atemlos in seine eigene Vergangenheit eintauchte:
1 Die Zeit der Tänzer
I/1
Wie ein Marktweib vom nahen Gemüsemarkt scheint die knarrende Türe im Hintergrund Menschliches über ihre Benutzer zu tratschen. Verbindung und Durchgang ist sie, die Hintertüre, doch Haupteingang für Eingeweihte und Stammgäste, auch für mich. Es ist fünf Minuten vor zwölf. Dero, eine alternde Tunte, begrüßt mich freudig. Er tätschelt dabei zärtlich meinen Hintern, während feuchte Lippen meine Wangen streifen, fünf Minuten vor zwölf Uhr, kurz vor Mitternacht.
Einige Jünglinge bewegen sich wie Operettendiven, schweben in Dunst und Nebel.
Ich setze mich auf die Wandbank am Stammtisch des Bajass, fünf Minuten vor zwölf, nach einem heißen Septemberabend.
Eine anstrengende Vorstellung liegt hinter mir.
So aufgewühlt wie ich war, wollte ich keineswegs nach Hause. Noch in der Garderobe, geschafft und down, entschied ich mich, auf einen Sprung hierher zu kommen.
Es ist sehr warm im Lokal. Die Hitze des Tages klammert sich fest.
Kurz und heftig bricht Schweiß aus all meinen Poren.
Mir ist, als spürte ich den vollen weichen Busen eines Mädchens in der rechten Hand. Mein Körper spannt sich.
Der weiche Busen wird zur harten Hüfte meiner Partnerin, als die dunkle, knorrige Stimme Evas ein Bier ankündigt.
Gierig trinke ich das frisch Gezapfte in großen Zügen bis zur Neige. Es wirkt befreiend.
Ein stechender Schmerz in der rechten Schulter bringt mir die Hüfte zurück. Ich hebe meine Partnerin in einen unendlichen Flug. Ohne high zu sein, ein Horrortraum. - Angst vor dem Sturz?
Mich schaudert - es hätte wirklich sein können. Meine Schulter ist noch immer kaputt.
Kalter Schweiß auf der heißen Stirn und ein einzelner Tropfen rinnt langsam am Rückgrat entlang.
Dero setzt sich freudestrahlend an meinen Tisch. Obwohl mich seine Begrüßung wie jedes Mal anwidert, mag ich ihn.
„Ach, was bist du heute so schön! - Hast du gut getanzt?“ Deros Frage lässt mir das schmerzverzerrte Gesicht meiner Partnerin erscheinen. Ich zwinge mich, ihm zu antworten:
„Ich glaube ja, das Publikum war sehr gut.“
‚... Ist ja nichts passiert.‘
Und wieder spüre ich diesen warmen, vollen Busen. Warum nur müssen die meisten Tänzerinnen dünn, hart und unerotisch sein. Manchmal glaube ich, die Homosexuellen unter meinen Kollegen verstehen zu können.
Dero erzählt leicht beduselt und erregt irgendwelche Geschichten - es ist schwer, sich auf ihn zu konzentrieren.
Früher war er einer der besten Tänzer, ein Star, später Ballettmeister, Choreograph, Trainingsleiter. Tänzer pilgerten zu ihm, wie gläubige Moslems nach Mekka. Er hat die ganzen großartigen, alten