Entleert, zitternd und schwach, kletterte indessen Michael in die Badewanne unter die Brause. Er glaubte sich allein und duschte ausgiebig. Große bunte Handtücher hingen in dem altrosa gekachelten Bad und durch bunte Fenster fallende Sonnenstrahlen spendeten ein schmeichelnd weiches Licht.
Als er sich gründlich abfrottierte, ging es ihm allmählich etwas besser. Ein Rest von Bier, aus der angebrochenen Flasche, würde sicher etwas ausgleichen, denn restlos nüchtern wollte er ja nicht werden, er wollte nur nicht mehr leiden.
Immer noch unbekleidet ging er in die Küche und stand plötzlich vor Jo. Um ihre Beine strich schnurrend der Kater. Betreten - verwirrt standen sich zwei gänzlich unterschiedliche Menschen gegenüber. Nur das Schnurren des schwarzen Katers unterbrach die Stille.
Michael wurde seine Nacktheit bewusst, und Jo war erstaunt, den Körper eines Jünglings vor sich zu sehen. Beide waren äußerst verlegen. Ein Sonnenstrahl traf Michaels nackte Füße und der schwarze Kater strich um sie, schnurrend, mit rundem Katzenbuckel. Winzige Staubpartikel schwebten langsam auf und ab im Licht, das sich seinen Weg suchte, und wieder fanden sich ihre Augen, fragend, ein wenig ängstlich.
Jo fasste sich zuerst:
„Das ist Maximilian, mein einziger Bezugspunkt und Hausgenosse und ich bin Johanna, meistens werd ich ‚Jo’ genannt.“ Mit einer fast schüchternen Geste streckte sie ihm ihre Hand entgegen.
Jo wirkte mädchenhaft, das Gesicht zart gerötet von der frischen Luft.
„Michael!“ - Förmlich, hölzern - alles weltmännisch Elegante schien von ihm abgefallen - gab er ihr die Hand. Doch als sich beider Hände berührten, sprang der Funke über.
Als wär’s die einzig mögliche Art der Verständigung zwischen ihnen, klammerten sie sich an das Verlangen ihrer Körper, taumelten aus der Küche, in eine Arena lieblicher, bunter Plüschtiere, die dem Paar schweigend zusahen.
Das wenige, was Jo und Michael verband, gewann die Oberhand und beide versuchten gar nicht erst sich zu rechtfertigen.
Am Nachmittag nahmen sie etwas zu sich, Jo musste zur Arbeit und Michael blieb.
Im grellbunten Ambiente der großen Altbauräume hing noch der Geruch sich liebender Menschen.
Maximilian der Kater schloss Freundschaft mit Michael, welcher jetzt, wo er allein war, seine Erinnerungen nicht mehr verdrängen konnte.
Bei der Besprechung in der Oper hatte er, wie so oft in den letzten Monaten, wenn er sich gedemütigt fühlte, überreagiert. Anstatt dass er dankbar gewesen wäre, nachdem sich die Direktion überhaupt für seine Choreographien interessierte, fühlte er sich gedemütigt durch die Art und Weise, wie sie mit ihm umgingen. Wütend, ohne auf eine mögliche Einigung zu warten, hatte er die wichtige Besprechung verlassen.
Und mit Ulla, einer seiner ehemaligen Tänzerinnen, die er am Abend traf, verbanden ihn zu viele Erinnerungen an eine Zeit, in der er glücklich, erfolgreich und voller Ideen gewesen war, aber auch Erinnerungen an die letzten Tage von Kai, seinem Meister und Mentor, und dessen tödliche Krankheit.
Nur wenig später zwei weiteren Todesfälle, durch dieselbe Krankheit. Seine ersten großen Niederlagen, sein chaotisches Privatleben, welches er nicht mehr in den Griff bekam. Und danach so viel sinnlos verlorene Zeit ...
Maximilian, der sich bei Michael eingerollt hatte, leckte ihm die Finger und das mächtige Bedürfnis sich zu betrinken überkam Michael wieder, obwohl er wusste, wie sehr gerade dies für ihn verlorene Zeit sein würde. Zweifellos war es zugleich eine Zeit, in der er sich nicht rechtfertigen musste, die einzige Kraftanstrengung war dann, die Wirkung des Alkohols zu verfolgen, bis das Vergessen möglich wurde.
Unbeherrscht und wütend schleuderte Michael den Kater von sich. Er verließ das Haus in der Dämmerung.
Heute fand Jo zu ihrer Bestform, sie spielte mit den Männern wie auf einem Xylophon, schon der leiseste Anschlag brachte Schwingungen hervor, die sie geschickt nutzte, so dass die Kasse stimmte, und sie war charmant zu den wenigen Frauen.
Manchmal stützte sich Jo auf die blankpolierte Theke und zeigte großzügig ihren üppigen Busenansatz. Den Ausschnitt hatte sie heute etwas verkleinert, weil er sonst neugierigen Augen zu viel verraten hätte. Es waren ihr von der Nacht einige blaue Flecken geblieben, die sich langsam vergrößerten und bei manchen Bewegungen erinnerte Jo ein leichter Schmerz an ihre Erlebnisse. Die Männer mochten ihre dunkle samtweiche Stimme und auf die Frage, darf’s noch was sein, sagten sie heute noch öfter ja.
Doch zwischendurch tauchte hinter ihrem routinierten Lächeln die Angst auf, etwas zu verlieren, was sie zu gerne besessen hätte, etwas, was sie nicht einmal so richtig fassen konnte. Wer würde das glauben, wenn man sie so sah, bei ihrer Arbeit, hier im Laden. Jo wusste, sie war gut in ihrem Job. Und damit meinte sie nicht das Abkassieren. Von diesem Platz aus, hinter der Theke, konnte sie so manchem helfen, seine Sorgen zu vergessen. Jo hatte etwas Mütterliches an sich, obwohl sie eher jugendlich, attraktiv - und auf Männer sexy und sehr erotisch wirkte. Natürlich spielte sie hinter der Bar in erster Linie eine Rolle, gab sich aufreizend, manchmal lasziv. Sie wusste ziemlich genau, wie Männer reagieren, aber das Mütterliche an ihr war echt und sie konnte wirklich zuhören. Man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Obschon an der Bar eher selten kluge Gespräche geführt wurden, war es umso überraschender für ihre Gäste, wenn Jo wendig und intelligent mithielt.
Weil ihre Gedanken heute ständig abschweiften, ließ sie wohl etwas mehr ihren attraktiven Körper sprechen.
Jo hätte zu gerne zu Hause angerufen. Sie hoffte, dass er noch da war, dass er warten würde. Je länger sie von ihm getrennt war, desto mehr zog sie dieser Mann an.
Jo und Michael hatten sich nicht festgelegt, alles blieb offen. Beide hatten bittere Erfahrungen hinter sich, und ihre Scheu war groß. Keiner wollte den anderen festhalten oder etwa verpflichten, etwas zu tun, was von ihm nicht restlos freiwillig käme.
Wenn sie wenigstens anrufen könnte. Es rächte sich jetzt, dass sie für ihre Wohnung nie ein Telefon angeschafft hatte.
Michaels überreizte Nerven beruhigten sich langsam nach den ersten Bierchen. Er war durch ein paar Kneipen gezogen und konnte sich zu nichts Endgültigem entscheiden. Auch die Müdigkeit meldete sich mehr und mehr.
Seine Sachen waren immer noch im Schließfach am Bahnhof Zoo.
Wenigstens die Wäsche sollte er mal wechseln.
Der Rückflug wäre noch möglich, er müsste nur umbuchen.
Aber weshalb, wozu?
„Was soll’s, wenn keiner wartet!“, Michaels aufkommende Aggressivität richtete sich gegen ihn selbst.
„Keine Aufgabe, keinen Sinn ... - Scheiße!“ Er würde wieder untätig warten - untätig warten müssen!
„Was soll’s, ob ich hier bin oder dort, erreichbar oder nicht ... Scheiße, man ist so abhängig! - Abhängig davon, ob man dir die Möglichkeit gibt zu arbeiten. - Ein Kapitän ohne Schiff oder ein Trainer ohne Mannschaft, - ein Choreograph ohne Tänzer, ohne Ballett, ist wie ein Maler ohne Farben. - Wie demütigend, nicht arbeiten zu können, nicht arbeiten zu dürfen!“
Mit einer plötzlichen Bewegung erschreckte der vor sich hin maulende Mann einzelne Spaziergänger. Zwei, drei große Schritte, fast schon Sprünge, und er trat gegen eine leere Bierdose, die laut scheppernd über den Gehsteig schlitterte.
„Zu nichts mehr nütze, außer zum Bumsen und zum Saufen!“
Michael war bei den ersten etwas feineren Geschäften angelangt. Pikiert wandten sich einige Damen ab.
Sich irgendwo verkriechen und schreiben. - Warum nicht, wenn er eh nicht vergessen konnte ...
Alles aufschreiben, vielleicht könnte er einiges künstlerisch verarbeiten.
Dazu