Abgesehen von den letzten zehn Minuten hatte ich das Gewicht des Rucksacks auf meinem Rücken heute kaum wahrgenommen, was an ein Wunder grenzte, wenn ich an den gestrigen Tag dachte. Nur mein Nacken schmerzte ein wenig, und der Muskelkater war immer noch höllisch. Ich kochte mir einen Cappuccino, aß einen Müsliriegel, und beobachtete, wie andere Wanderer an mir vorbeizogen. Die meisten gingen zu zweit oder in größeren Gruppen. Den einen oder anderen erkannte ich aus dem Pub von gestern Abend, aber Juliette oder die drei Deutschen sah ich nicht.
Ich zog mein Telefon hervor, scrollte unschlüssig durch die Nummern, und rief schließlich Ekat an.
„Mella, Liebes, wie geht es dir, wo bist du?“, klang die vertraute Stimme aus dem Telefon. Im Hintergrund hörte ich monotones Brummen; sie war also unterwegs. Ekat fuhr, den Fotokoffer auf der Rückbank ihres antiken Audis, ständig quer durch Deutschland. Sie arbeitete als freiberufliche Fotografin für verschiedene Magazine und fotografierte gelegentlich Hochzeiten. Man erreichte sie, egal wo sie war, auf dem Handy, da sie aus unerfindlichen Gründen immer, wirklich jederzeit, Empfang hatte. Falk hatte einmal die Vermutung geäußert, dass sie sich in irgendein Diplomatennetz eingehackt hatte, vielleicht mit Hilfe ihres mittleren Sohnes, der als Mathematiker in Frankfurt am Main arbeitete.
Ich erzählte Ekat von meinem gestrigen Tag und Abend, wobei ich großzügig darüber hinweg ging, dass ich beinahe aufgegeben hätte. Wahrscheinlich konnte sie sich das sowieso denken. Dann wollte ich ihr den heutigen Vormittag schildern und stellte fest, dass eigentlich nichts passiert war, außer, dass die Sonne geschienen hatte und ich gelaufen war.
„Aber langweilig war es kein bisschen, Ekat“, sagte ich, selber verwundert.
„Genau das ist es, Mella, das ist die Magie. Du wirst immer weiter laufen wollen. Übung und Nichtanhaften führen zur Ruhe des Geistes. Pass nur auf, dass du keine Blasen kriegst, dann ist alles gut. Hast du die Blasenpflaster eingepackt, wie ich dir geraten hatte?“
„Ja“, log ich, und dann: „Warst du jetzt eigentlich bei Laura? Sie hatte mir noch gesagt, dass du sie besuchen wolltest.“
„Von dort komme ich gerade.“
„Wie geht es ihr? Sie antwortet nicht auf meine Nachrichten.“
„Ach, alles wie immer. Sie fährt ihre Jungs zum Fußball, geht ins Fitnessstudio, oder kocht. Um neun geht sie ins Bett. Heute Morgen hab ich sie gefragt, ob sie eigentlich noch Sex haben, sie und ihr bayerischer Bierbrauer.“
„Was hat sie geantwortet?“
„Ob ich zum Frühstück lieber Weißwurst möchte, oder Müsli.“
Ekat lachte grölend. Ihrer Meinung nach sollten die Menschen grundsätzlich mehr Sex haben. Vögeln für den Weltfrieden, das war ihr Mantra. Unvermittelt spukte mir Falk durch den Kopf. Beim Sex hatte ich gemerkt, dass etwas nicht stimmte. Da waren diese Kratzer auf seinem Rücken gewesen. Ich erinnerte mich noch genau an den Moment, als ich über die Kratzer strich, ihn gedankenabwesend fragte, was denn das sei, und im selben Moment die Antwort bereits kannte. Etwas in meinem Inneren war damals abgesackt, als hätte sich der Boden unter mir aufgetan, und gleichzeitig waren die Wände des Schlafzimmers auf mich eingestürzt wie in einem Horrorfilm; all das innerhalb von Sekundenbruchteilen.
„Was von Falk gehört in letzter Zeit?“, fragte Ekat. Ich hatte schon lange den Verdacht, dass sie Gedanken lesen konnte.
„Ich hab ihm geschrieben. Warum?“
„Ach, auch wegen deiner Schwester. Vorhin, kurz bevor ich abgefahren bin, hat sie gemeint, dass sie es gar nicht gut findet, dass du ihn und Lilly so lange alleine lässt. Weil Falk doch gerade so labil sei.“
„Was soll der Schwachsinn? Falk und Lilly kommen prima klar!“
„Ich glaube“, tönte Ekats Stimme etwas blechern aus dem Handy, „dass Laura sich einfach nicht vorstellen kann, dass man sich wegen eines Seitensprungs trennt. Gerade wenn ein Kind da ist. Sie würde ihrem Markus alles verzeihen, nur damit die Familie zusammen bleibt.“
„Hm“, machte ich.
„Ja“, sagte Ekat.
„Du hast ihr nichts erzählt, oder?“
„Natürlich nicht. Wie und wann du das tust, wirst du selber entscheiden.“
Wir schwiegen beide einen Moment, dann sagte ich.
„Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, etwas anzufangen, als jetzt.“
Bestimmt lächelte sie.
„Mach's gut Melaniaschätzchen.“
„Mach's gut Ekatrinchen, wir hören uns.“
***
Nach dem Telefonat schmierte ich mein Gesicht mit Sonnencreme ein, da meine helle Haut zu Sonnenbrand neigte. Ich überlegte, Falk anzurufen, um ihn daran zu erinnern, auch Lilly regelmäßig einzucremen. Aber die Kleine war jetzt sowieso in der Kita. Heute Abend wollte ich es versuchen, bevor sie ins Bett ging.
Dann dachte ich an Laura, meine Überfliegerschwester. Ja, sie hatte es unseren Eltern nie verziehen, dass sie sich getrennt hatten. Komischerweise war ihre Wut auf meinen Vater noch viel größer als auf meine Mutter, mit ihm redete sie so gut wie gar nicht mehr. Aber wenn einer den anderen betrügt – dann war es doch ganz normal, dass man sich trennte! Vielleicht nur nicht in ihrer schicken bayerischen Vorstadtwelt, wo sich sowieso alle gegenseitig etwas vormachten. Sie konnte den Dialekt ihrer neuen Freundinnen täuschend echt nachäffen. Da sie nur noch selten nach Berlin kam, setzte ich mich so oft es ging alleine oder zusammen mit Lilly, die Lauras Jungs vergötterte, in den ICE nach München. Und wann immer meine Schwester und ich uns sahen, war es wie früher, wenn wir abends, als längst das Licht hätte gelöscht sein sollen, zur anderen ins Bett gehuscht waren, um zusammen unter der Decke zu lesen und dann eingekuschelt einzuschlafen, oder wir später, als Jugendliche, ganze Wochenenden vor dem Fernseher verbracht hatten – Laura hatte mir zuliebe alle Filme, die ich aus der Videothek angeschleppt hatte, mitgeschaut, verwechselte aber bis heute Schlüsselszenen, maßgebliche Charaktere und zeitlose Zitate aus Klassikern wie der Indiana Jones Reihe, den Star Wars Episoden I bis VI, oder Titanic.
Plötzlich vermisste ich sie sehr, und nahm mir vor, sie später ebenfalls anzurufen.
***
In einem winzigen Dorf, am Brunnen auf dem Dorfplatz, legte ich meine Mittagspause ein. Es gab Weißbrot und Käse, beides hatte ich in einem Tante-Emma-Laden erstanden, den ich beinahe übersehen hätte, wenn er nicht im Wanderführer explizit ausgewiesen worden wäre. Ich spülte meine Mahlzeit mit einer eiskalten Dose Cola runter, und machte mich gegen 15 Uhr wieder auf den Weg.
Beim Pub am Ortsausgang hielt ich noch einmal an, um die Wasserflaschen aufzufüllen. Einige Wanderer schickten sich ebenfalls gerade an, den zweiten Teil der Tagesetappe in Angriff zu nehmen. Ich erkannte Juliette an ihrem grellpinken Outfit, die, gefolgt von einer ziemlich dicken Frau, die wohl ihre Mutter sein musste, und einer jüngeren Frau, die humpelte, gerade in den Schatten vor der Wirtschaft trat.
Die drei trugen jeweils nur einen kleinen Tagesrucksack. Wahrscheinlich wurde ihr Gepäck von Unterkunft zu Unterkunft transportiert; im Reiseführer stand, dass die meisten Hotels diesen Service anboten. Ich hob grüßend einen Wanderstock.