Bis ins Hochland, dann nach links. Johanna Danneberg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johanna Danneberg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750215719
Скачать книгу
erklärte diplomatisch:

      „Vielleicht will Mella gerade einfach nicht kreativ sein, Jutta.“

      Ich starrte in mein Saftglas. Meine Mutter sagte:

      „Du hast Recht, scheiß auf die Mappe. Ich weiß etwas viel besseres: mach eine Reise! Wie sagst du immer, Ekat? Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, etwas anzufangen, als jetzt!“

      Meine Patentante sah ihre beste Freundin nachdenklich nickend an.

      „Und künftiges Leid sollte vermieden werden“, fügte sie hinzu, bevor sie sich mir zuwendete. „Kann es vielleicht sein Mella, dass du dir selber Leid bereitest?“

      „Natürlich tut sie das! Und, schlimmer noch: sie leidet, und es gefällt ihr auch noch!“

      „Das hab ich von dir gelernt, Mama.“

      Jutta ignorierte meinen Einwand.

      „Nimm den Atlas“, sagte sie, und holte aus der Küchenecke, wo Kochbücher, Zettel von Pizzabringdiensten, und der Aktenordner mit den wichtigen Unterlagen standen, einen sperrigen Weltatlas. „Mach die Augen zu. Schlag ihn auf irgendeiner Seite auf, und leg den Finger auf die Seite. Dann machst du die Augen auf und dahin fährst du dann.“

      Das war typisch Mama, sie konnte sinnlose Lösungen für nicht vorhandene Probleme aus dem Ärmel schütteln wie andere Menschen schlechte Witze. Außerdem wiedersprach sie sich ständig selbst. Vor allem, wenn sie genügend Riesling getrunken hatte.

      „Großartige Idee!“, fand Ekat.

      „Ich geh mal wieder in mein Zimmer“, sagte ich. „Ich hab gestern noch diesen Film mit Ryan Gosling angefangen...“

      „Ach komm schon, versuch es wenigstens“, bettelte Jutta.

      Das Land, auf dem mein Finger landete, war China, genauer gesagt die Uigurische Autonome Region Xinjiang, aber da dort ein blutiger Bürgerkrieg herrschte, entschieden wir uns für einen zweiten Versuch. Und der war dann Schottland. Nach ein paar Klicks bei Google identifizierte Ekat den West Highland Way als „Schottlands schönsten Fernwanderweg“. Ich überflog die Beschreibung bei Wikipedia, und kann nicht mal genau sagen, was es war, das mich am Ende dazu bewog, aber auf jeden Fall verkündete ich schlicht:

      „Ich mach's.“

      Vielleicht wollte ich einfach nur meine Ruhe haben. Als Mama realisierte, dass ich tatsächlich vorhatte, die 96 Meilen mit dem Rucksack auf dem Rücken zu wandern, ohne feste Unterkünfte zu buchen, fing sie erst schrill an zu lachen, und versuchte dann, mir mein Handy zu entreißen. Aber da hatte ich schon meinen Billigflug nach Glasgow für Mitte Mai gebucht.

      Als ich Falk am nächsten Tag am Telefon von meinen Plänen erzählte, hatte er mit schwermütiger Stimme gemeint, ich solle mir „alle Zeit der Welt“ nehmen, und „das mit Lilly würde er schon hinkriegen“. Als ob ich eine gottverdammte Weltreise antreten wolle! Dabei waren es bloß zehn Tage, und Jutta würde ihm Lilly ohnehin jederzeit abnehmen.

      Ich stürzte mich sogleich in die Reisevorbereitungen, insbesondere, nachdem ich festgestellt hatte, dass ich Wanderschuhe brauchen würde. Im Schlussverkauf erstand ich ein radikal runtergesetztes Paar lilafarbene Doc Martens und lieh mir den Rest der Ausrüstung von Ekat, ich überflog den Reiseführer und schaute gewissenhaft die in Schottland spielende schnulzige Fernsehserie.

      Am Tag vor meiner Abreise war Lilly bei mir.

      „Wo ist Schottland, Mella?“, wollte sie wissen. Sie hatte noch nie Mama zu mir gesagt, aber seit der Trennung sagte sie nun auch zu Falk nur noch selten Papa, was ich exzentrisch fand, und Falk schrecklich.

      „Das liegt weit im Norden, und dazwischen ist ein großes Meer.“

      „Im Norden, da ist es sehr kalt.“

      „Ja das stimmt, aber ich habe einen superwarmen Schlafsack von Tante Ekat, und ich schlafe in einem gemütlichen Zelt.“

      „Ich will auch mal in einem Zelt schlafen.“

      „Das besprechen wir, wenn ich wieder da bin.“

      „Falk sagt, du fliegst da mit dem Flugzeug hin?“

      „Ganz genau.“

      „Flugzeuge kratzen das blau vom Himmel ab, deswegen sind dahinter immer weiße Streifen.“

      Sie hatte in ihrer altklugen Art den Zeigefinger gehoben und mich ernst angeschaut. Ihr linker Wimpernkranz war blond, der rechte dunkel.

      Am nächsten Tag war ich ins Flugzeug nach Glasgow gestiegen, von Glasgow nach Milngavie gefahren, und nun, es war mittlerweile fast sieben Uhr abends, wanderte ich endlich los.

      Kapitel Drei

      Der Weg führte zunächst die paar Treppenstufen hinunter und dann entlang des Bachbetts unter einer Bahnunterführung hindurch, die nicht nach Pisse roch, wie Bahnunterführungen in Berlin es für gewöhnlich tun. Der Bach mündete in einen Fluss, an dessen Ufer der Weg tiefer in den Park führte. Linkerand, zwischen den Bäumen, erkannte ich Wohnhäuser und eine stille Straße, an der gerade die Straßenlaternen ansprangen.

      Aus dem Reiseführer wusste ich, dass ich das Hochland – die riesige bergige Hochebene, die weite Teile des nordwestlichen Schottlands einnahm - erst in ein paar Tagen erreichen würde. Zunächst einmal würde ich, wenn alles glatt ging, am morgigen Abend den Loch Lomond erreichen, einen langgestreckten Süßwassersee. An dessen Ufer führte der West Highland Way etwa zwei Tagesmärsche weiter nach Norden, um sich dann langsam hoch in die Berge zu schlängeln, wo es für drei Tage ziemlich karg und menschenleer werden würde, bevor der Weg schließlich am Ben Nevis, dem höchsten Berg Großbritanniens vorbei, hinunter nach Fort William führen würde, einer kleinen Stadt, die als touristische Hochburg galt.

      Aber ich wollte nicht jetzt schon an Fort William denken, wo ich noch nicht mal die Stadtgrenze von Milngavie passiert hatte. Immerhin wich das Wohngebiet jenseits des Flusses nun einem Industriegebiet mit Lagerhallen und parkenden Lastwagen.

      Zwei Joggerinnen überholten mich, leichtfüßig trabend in bunten Turnschuhen. Zum Joggen hätte mich früher nicht mal Brad Pitt überreden können, aber nun schaute ich den beiden neidisch hinterher. Eine gemütliche abendliche Joggingrunde, danach schön heiß duschen, dachte ich wehmütig. Und dann: der Rucksack fühlt sich aber wirklich schwer an.

      Ich erblickte ein Schild, das zurückwies in die Richtung, aus der ich gekommen war. Darauf stand: „Startpunkt West Highland Way: 5 min“

      War ich etwa erst fünf Minuten unterwegs? Nein, ich musste schon länger gegangen sein. Bedeutet das, dass ich langsamer war als der Durchschnitt? Nein, vermutlich waren das Zeitangaben für Jogger.

      Dann überlegte ich, ob Entfernungen hier in Minuten angegeben seien, und hielt Ausschau nach einem Schild, das in die Richtung wies, in die ich lief, und auf dem stehen würde, wie viele Minuten es noch dauerte bis nach Fort William.

      Ein solches Schild tauchte nicht auf, dafür das von Juliette bereits erwähnte weiße Sechseck, das an Bäumen, Zaunpfählen oder anderen gut sichtbaren Stellen den Weg des West Highland Ways markierte.

      Ob ich mein Buch herausholen sollte, um die Beschreibung der ersten Etappe nachzulesen? Dort stand ja sicherlich, wie lange es dauern würde, bis ich aus diesem verfluchten Milngavie heraus war, und mein Zelt aufschlagen konnte. Und wog das Wasser hier eigentlich mehr als zu Hause? Vielleicht hätte ich eine Probetour mit vollgepacktem Rucksack machen sollen. Ich kramte einen Müsliriegel aus der Tasche meiner Shorts, und aß ihn im Laufen. Danach hatte ich immer noch Hunger, außerdem musste ich pinkeln. Wenn ich jetzt anhalten würde, müsste ich den schweren Rucksack erst von den Schultern wuchten, und schlimmer noch, hinterher wieder hoch. Aber es half nichts, ich hatte gerade zwei Gläser Apfelsaft getrunken, ich musste jetzt wirklich dringend pinkeln.

      Ich hielt an einer Weggabelung an, ließ die Wanderstöcke ins Gras fallen, löste den Hüftgurt, und schmiss den Rucksack daneben. Ein