Lilly hatte die Veränderung bisher gut verkraftet. Ich hatte den Verdacht, dass das im Fall von Falks Wohnung an Radeks Katze lag und daran, dass Falk ihr ein Hochbett gebaut hatte, und im Fall meines Umzugs zu Oma Jutta – sie hatte meine Mutter schon immer „Oma“ genannt - daran, dass sie wusste, wo dort die Süßigkeiten versteckt waren.
An dem Freitag, bevor Falk und ich unsere Umzüge über die Bühne brachten, war ich zu meiner Chefin gegangen und hatte die Kündigung eingereicht. Seit dem ersten April war ich nun offiziell eine arbeitslose, 31-jährige, ledige Frau ohne qualifizierten Berufsabschluss, die wieder bei ihrer Mutter wohnte.
Und eigentlich war eine Wanderung in Schottland so ziemlich die letzte Idee, auf die ich in dieser Situation gekommen wäre. Die ersten beiden Wochen des Aprils hatte ich nämlich vorwiegend auf dem Sofa verbracht, alle Filme, die ich besaß, noch einmal geschaut, Chips gefuttert, und mir eingeredet, dass es mir noch nie besser gegangen sei. Eines Abends dann war Ekat zum Spieleabend zu Besuch gewesen, was in der Regel für Ekat und Mama bedeutete, dass jede mindestens eine Flasche Wein leerte, und für mich, dass ich gewann. So war es auch diesmal gewesen, bloß dass ich zusätzlich zu meinen geliebten Kartoffelchips auch Schokolade in mich reingestopft, und darüber hinaus bei der zweiten Runde Malefiz nicht mehr ganz bei der Sache gewesen war, was mir eigentlich nie passierte.
Ich erinnere mich noch gut an die Szene. Ekat war dieses Mal nach zwei Gläsern Riesling auf Wasser umgestiegen, und hatte mich schon eine ganze Weile mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtet. Wir beendeten gerade das Spiel. Ich räumte die Spielsteine ein.
„Wie geht es dir eigentlich, Mella?“, fragte Ekat. Sie saß im Schneidersitz auf einem der Küchenstühle mit den bunten Kissen. Wenn sie ihre langen dünnen Beine zusammenfaltete, sah das immer aus, als bräuchte man dafür eine Betriebsanleitung. Sie trug Yogahosen und ein schwarzes Tank Top, das ihre trainierten Oberarme zur Geltung brachte. Von ihrer Figur her hätte Anfang 20 sein können. Darauf war ich schon immer ein wenig neidisch gewesen, ich hatte nämlich Mamas Körperbau geerbt: klein und gedrungen, mit großer Oberweite, Hang zum Bauchansatz und nicht vorhandener Taille. Dafür besaß ich schöne schlanke Beine, so dass ich meist enge Stretch Jeans trug, und darüber locker sitzende Blusen, gerne in allen möglichen Farben gemustert, gepunktet, kariert oder gestreift. Mit den Jahren hatte ich eine große Sammlung dieser Blusen zusammengetragen, immer mit Bubikragen, da ich es hasste, wenn man mir ins Dekolleté schauen konnte. Im Winter zog ich für gewöhnlich noch eine Strickjacke drüber. Heinrich meinte, ich sähe aus wie eine Gouvernante aus den 1930er Jahren. Jedenfalls hatte ich es schon immer persönlich genommen, dass ich dieses Bäuchlein mit mir rumtrug, mich aber andererseits auch stets geweigert, an meiner Ernährung etwas zu ändern. Sollten sich doch die Kalorien ändern!
Auf Ekats Frage antwortete ich nun enthusiastisch:
„Super geht’s mir! Der Typ vom Arbeitsamt hat mir gestern die Unterlagen für den Lehrgang geschickt. In fünf Wochen geht’s los.“
Mama räumte in der Küche ein paar Teller von links nach rechts. Sie pflegte zu sagen: „Man hat immer die Wahl, stundenlang aufräumen oder einen kurzen Moment schämen“, aber ich wusste, dass morgen ein Kollege von ihr zu irgendeiner dienstlichen Besprechung vorbei kommen wollte, und nahm mir vor, nachher zumindest das dreckige Geschirr dieser Woche in den Geschirrspüler zu stellen.
Jutta, meine Mutter, hatte einen ihrer sackähnlichen Kaftane an. Das Rot ihrer gefärbten Haare war ein Stück rausgewachsen, so dass der fast weiße Haaransatz am Schädel zu sehen war. Sie war aufwendig geschminkt, und leicht angetrunken.
„Da lerne ich dann alle möglichen Microsoft Tools“, plapperte ich weiter, „und ein Bewerbertraining...
„Wie soll es ihr schon gehen, Ekat“, unterbrach mich Mama nun, als hätte ich gar nichts gesagt. „Ihr Freund hat sie betrogen. Mit seiner Ex. Die auch noch fast genauso heißt... Mella braucht jetzt einen Cut. Emotional und beruflich. Sie muss sich wieder selbst finden. Und vor allem braucht sie Abstand von Falk. Dass er einen solchen Fehler gemacht hat... Ich kann es immer noch nicht fassen.“
Jutta ließ sich auf ihren Stuhl plumpsten und schenkte Wein nach.
„Mama!“, stöhnte ich, als sie einen Teil daneben kippte.
Jutta drehte mir eine lange Nase und streckte die Zungen raus. Sie und Ekat machten diese Geste seit 30 Jahren, sie war Teil einer Art Geheimsprache, die sie entwickelt hatten, als sie als junge Studentinnen in Charlottenburg zusammengelebt hatten. Beide wussten, wie peinlich ich es fand, wenn sie das taten. Früher hatte ich dann manchmal einen meiner sinnlosen Einwürfe von mir gegeben, irgendwas wie „Vier gewinnt!“ oder „Kobras! Überall Kobras!“, aber diesmal winkte ich nur müde ab.
„Ach komm her, Schätzchen“, sagte Mama, rückte ihren Stuhl neben meinen und drückte mich an ihren weichen Busen. „Das wird schon wieder. Vielleicht kannst du ihm sogar eines Tages verzeihen.“
„Das ist vielleicht ein bisschen früh“, meinte Ekat.
„Möglich“, räumte Jutta ein. „Trotzdem, so etwas kann jedem passieren. Das heißt nicht, dass es richtig war. Aber vielleicht könnt ihr euch eines Tages wieder annähern. Vielleicht müsst ihr euch nur mehr Freiheiten einräumen.“
Ich sah ruckartig auf.
„So eine Art offene Beziehung? Das glaubst du doch wohl selber nicht!“
Nachdenklich schwenkte meine Mutter ihr Glas, in dem ein paar Stücke vom Korken schwammen.
„Nee, hast recht, kann ich mir irgendwie auch nicht vorstellen, dass das bei euch funktionieren würde. Da ist ja Falk auch gar nicht der Typ für. Die im Osten sind sehr traditionell aufgewachsen. Ich glaube ja ehrlich gesagt, dass Falk diese Sache mit dem Antrag damals nie ganz verkraftet hat. Er hat sich von dir zurückgewiesen gefühlt. Zu Recht, muss ich sagen.“
Sie schaute mich streng und gleichzeitig schwammig an.
„Und vor lauter Trauer ist er mit seiner Ex ins Bett gestiegen?“
„Ich sage doch, das war ein Fehler. Aber immerhin hat er ihn zugegeben.“
„Weil er nicht lügen kann. Ich hab gleich gemerkt, dass etwas nicht stimmte, als er nach Weihnachten nach Hause kam.“
„Wie auch immer. Ich glaube jedenfalls, dass bei euch beiden noch Gefühle da sind. Ich spüre das einfach. Das ist anders als bei mir und Richard damals. Da war es endgültig vorbei, nachdem er mich endlich gehen ließ. Es war wie eine Befreiung für mich!“
Und eine äußerst eigenwillige Interpretation der Geschehnisse rund um die Trennung meiner Eltern. Ekat und ich hatten uns daran längst gewöhnt, und beachteten das normalerweise gar nicht mehr. Jutta redete unterdessen weiter:
„Du brauchst nur Zeit. Und deine Freiheit. Wie wir alle! Ihr erzieht Lilly auch viel zu konservativ. Kinder brauchen Freiheit, genauso wie die Hühner und Schweine; die Massentierhaltung ist...“
„Die Freiheit, die Laura und ich als Kinder hatten, haben wir zum Fernsehen genutzt, Mama“, unterbrach ich sie unwirsch.
Ekat warf ein:
„Also Freiheit hat Mella ja nun, und auch jede Menge Zeit, nachdem sie nicht mehr arbeiten geht.“
Ich sah sie warnend an. Mama sagte:
„Eben nicht. Weil sie diesen bescheuerten Lehrgang machen muss.“
„Etwas Neues zu lernen ist nie verkehrt.“
„Meine Rede!“, rief Mama aufgeregt. „Etwas Neues lernen, darum geht es! Aber doch nicht so einen Computerkram! Wann geht dieser Kurs los, Liebes? In fünf Wochen? Überleg doch mal, was du in der