Juliette nickte etwas gezwungen. Wir hatten uns gemeinsam in Bewegung gesetzt, aber schon nach wenigen Schritten blieben ihre beiden Begleiterinnen hinter uns zurück.
„Wir lassen es langsam angehen“, sagte sie entschuldigend.
„Trotzdem müsst ihr mich überholt haben. Ihr seid doch sicherlich schon eine Weile hier, oder?“
Juliette verdrehte die Augen und raunte mir zu:
„Weil wir im Taxi hergekommen sind. Meine Freundin hat sich gestern Abend im Pub den Knöchel verstaucht, und meine Mutter kam heute früh schon den ersten Hügel, in dem Park in Milngavie, kaum hinauf. Jetzt haben wir Mittag gegessen, und die beiden sind wild entschlossen, den zweiten Teil der Tagesetappe zu wandern, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie es schaffen werden.“
Das glaubte ich auch nicht, sagte aber aufmunternd:
„Es sind doch nur noch neun Meilen bis Balmaha.“
„Eben.“ Juliette sah ziemlich unglücklich aus. Dann sagte sie unvermittelt:
„Übrigens hab ich deine Freunde vorhin noch mal getroffen.“
„Die drei Typen aus Berlin? Wann?“
„Gegen elf, gerade, als wir wieder im Stadtzentrum von Milngavie ankamen, um uns ein Taxi zu rufen. Da sind sie uns über den Weg gelaufen. Sie waren unterwegs in Richtung Pub, um sich nochmal mit Craigs Vater zu treffen. Sahen ganz schön schal aus, alle drei.“
„Die werden wahrscheinlich gar nicht erst loslaufen. Ist mir auch egal.“
„Ach so. Du hast ihn aber ganz schön angebaggert, diesen Craig.“
„Quatsch!“
Sie lachte.
„Ich fand ja Mesut echt süß. Leider vergeben. Dafür hab ich dann später einen Spanier kennen gelernt. Der wandert auch alleine. Hat uns vorhin überholt.“ Juliette warf einen kurzen Blick über die Schulter. „Kein Wunder, bei dem Tempo, das wir gerade drauf haben.“ Sie zwinkerte mir zu. „Also lass dich von uns nicht aufhalten.“
„Alles klar, dann mach's gut“, verabschiedete ich mich, und marschierte mit größeren Schritten voran.
Während der Nachmittag weiter fortschritt, schlängelte sich der Pfad durch dichtes Buschwerk langsam aber stetig bergauf, entlang mehrerer Hügelkuppen. Später ging es auf einem Forstweg weiter, der einen Hügel umrundete. Auf der anderen Seite wies wieder ein Schild den Weg. Ich machte eine Trinkpause und bewunderte die gelb blühenden Büsche, die zu beiden Seiten des Weges bis über meinen Kopf in die Höhe wuchsen. Die kleinen Blüten glänzten fettig wie Butter und dufteten süß und frisch, wie Vanillepudding mit frisch gepresstem Orangensaft. Ich sog den Duft ein, dann machte ich ein Selfie von mir inmitten der gelben Pracht, und schickte es an Laura.
Kurze Zeit später traf ich auf einen schwarzhaarigen Mann in einem karierten Hemd, der am Wegesrand saß, den Rucksack neben sich, den Blick auf die nächste Anhöhe gerichtet.
„Weißt du, ob das schon der Conic Hill ist?“, fragte er. Er hatte einen spanischen Akzent.
„Nein, aber das müsste in meinem Buch stehen“, sagte ich.
Gemeinsam sahen wir in meinem Reiseführer nach. Der Spanier, der sich als Pedro vorstellte, drehte die Karte des Streckenabschnitts dreimal im Kreis und schien vergessen zu haben, aus welcher Richtung er überhaupt gekommen war. Also orientierte ich mich anhand der Karte und der Beschreibung, und meinte dann, dass es sich bei der Anhöhe vermutlich tatsächlich um den berüchtigten Conic Hill, den ersten wirklich steilen Anstieg des West Highland Ways, handeln müsse. Der kahle Hügel stellte gleichzeitig auch die Zielgerade vor dem dahinter liegenden Balmaha am Ufer des Loch Lomond, dar.
Pedro fragte, ob wir nicht gemeinsam ein Stück laufen wollten, er habe leider keine Karte mitgenommen. Ich dachte an Juliette und antwortete, dass er sich gar nicht verlaufen könne, er müsse einfach nur dem weißen Sechseck folgen. Dann ließ ich ihn sitzen und wanderte weiter.
Die gelb blühenden Büsche wichen ausgedehnten Wiesen, die sich sanft zu den steileren Hängen des Conic Hill hinauf erstreckten. Schafe weideten in kleinen Grüppchen, und als ich die Anhöhe noch ein Stück weiter erklommen hatte, breitete sich unvermittelt das blau glitzernde Wasser des Loch Lomond hinter der Kuppe des Conic Hill aus. Auf einem steilen Pfad sah ich die bunten Rucksäcke anderer Wanderer und Wandergruppen, die sich langsam hinauf bewegten. Ein kräftiger Wind schob die Wolken über den Himmel, während sich die tief stehende Sonne im Westen bereits dem Horizont näherte.
Der Anstieg war brutal. Nach jedem Schritt war es eine neue Überwindung, den nächsten zu gehen, und der Rucksack schien plötzlich wieder eine Tonne zu wiegen. Auf etwa halber Höhe erwog ich, hier zu campen. Leider war der Abhang so steil, dass an einen Zeltaufbau nicht zu denken war. Nach dreiviertel des Weges wollte ich den Notarzt rufen, weil meine Lunge sich anfühlte, als hätte ich ein glühendes Stück Kohle verschluckt. Nach einer knappen Stunde erreichte ich endlich den Gipfel, und ließ erschöpft den Rucksack vom Rücken gleiten.
Von hier oben hatte man einen gigantischen Blick über den von Wäldern gesäumten, fast 40 Kilometer langen, aber nur etwa 8 Kilometer breiten See, der von unzähligen Flüssen und Bächen gespeist wurde. Auf der Wasseroberfläche spiegelten sich die roten und orangefarbenen Wolken am Himmel.
Ich hatte auf einer steinigen Fläche rechts des Weges angehalten, ebenso wie einige andere Wanderer. Gegenseitig machten wir Fotos von uns mit den Handys, beglückwünschten uns zur ersten erfolgreichen und nun fast geschafften Tagesetappe, und machten uns dann, einer nach dem anderen, an den Abstieg hinunter zum See. Balmaha, ein Örtchen am Ufer gleich unterhalb des Conic Hills, war das Ziel derjenigen Wanderer, die in Hotels übernachteten.
Ich jedoch verließ nach einigen Hundert Metern den Weg und kletterte einen seitlichen Ausläufer des Hügels wieder hoch, bis ich, immer noch weit oberhalb des Sees, einen flachen einigermaßen windgeschützten Platz fand.
Hier baute ich das Zelt auf, und dann kochte ich mir zum ersten Mal eine richtige warme Mahlzeit auf dem Gaskocher, eine Packung Bandnudeln mit Käsesoße.
Pasta in allen Variationen war so ziemlich das einzige, was meine Mutter je gekocht hatte. Seit ihrer aktiven Zeit bei Greenpeace ernährte sie sich vegetarisch, und ich sah die fleischlose, auf Nudeln basierende Ernährungsweise quasi als erblich bedingt an, ähnlich wie meine Cellulitis. Meine Schwester hingegen hatte es sich schon im Alter von acht Jahren zur Aufgabe gemacht, mehrmals die Woche das Abendessen für uns alle zuzubereiten. Leider hatte es ihr niemand gedankt. Mein Vater, der damals noch bei uns wohnte, schien keine Geschmacksnerven zu besitzen, er aß Abend für Abend alles auf, was auf seinem Teller landete, ohne hinterher sagen zu können, ob er Rührei oder Risotto in Weißweinsoße verspeist hatte. Mama schmierte sich nach Lauras liebevoll angerichteten Drei-Gänge-Menüs oft noch ein Käsebrot, angeblich, da sie nicht satt geworden sei, und ich war generell eher mäkelig bei allem, was nicht nach Nudeln schmeckte. Irgendwann hatte ich Laura dabei erwischt, wie sie Fleisch unter die Gerichte mogelte, und fortan hatten meine Mutter und ich uns geweigert, sie weiter für uns kochen zu lassen. Erst bei ihrer eigenen Familie in Bayern konnte sie ihre Leidenschaft voll ausleben.
Unwillkürlich berührte ich das kleine Tattoo auf der Innenseite meines linken Handgelenks. Es war ein winziges schlichtes Herz. Laura hatte dasselbe, wir hatten es uns stechen lassen, als sie 18 geworden war.
Als hätte sie es gespürt, summte mein Handy mit einer eingehenden Nachricht von Laura. Auf mein Selfie bezogen schrieb sie, ich sähe „etwas abgespannt“ aus, und ob das ein Pickel auf meiner Stirn sei. Sie habe außerdem die Flüge von Glasgow aus gecheckt, es gäbe mehrere Direktflüge nach München, und ich könne meinen „Selbstfindungstrip“ auch gerne bei ihr zu Hause machen, das Gästezimmer sei wie immer bereit für mich.
Ich zog den Fleecepulli über gegen den kühlen Wind, und las die Nachricht noch einmal, während die letzten Strahlen der bereits halb hinter dem Horizont verschwundenen Sonne den Loch Lomond in einen See aus flüssiger Lava verwandelten, der sich rot