Endlich waren die Frau und ihr Hund über die Hügelkuppe verschwunden, und ich hocke mich hinter einen Busch.
Was ist das hier überhaupt für ein Regenwald, dachte ich, nachdem ich meine Leggins und die Shorts wieder hochgezogen hatte. Der Wald sah fremd aus, überall Farn, komische gedrungene kleine Eichen, es gab baumhohe Brennnesseln und längliche Pflanzen mit roten Spitzen, die sich an den Enden aufrollten wie diese Würstchen, die meine Schwester manchmal ihren Jungs servierte, nachdem sie sie oben kreuzförmig eingeschnitten und im Ofen gegart hatte. Alles war überwuchert von Moos und Efeu, und durchdrungen von Feuchtigkeit wie ein Schwamm. Der sanfte Nieselregen setzte wieder ein.
Ich hastete zu meinen Sachen, um meine Regenjacke und den Regenüberzug für den Rucksack rauszuholen. Erst zog ich mich an, dann das Gepäck. Es dauerte ewig. Dann ging ich in die Hocke, um den Rucksack vom Boden aus wieder aufzusetzen. Als ich ihn festgeschnürt hatte, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, einen weiteren Müsliriegel heraus zu kramen. Scheiße! Egal. Ich musste erst mal irgendwie vorwärts kommen.
Meine Schritte kamen mir viel zu kurz vor, wie sinnlose Trippelschritte. Am Hügel wurde ich noch langsamer, der Anstieg fühlte sich an wie zusätzliches Gewicht auf dem Rücken.
Wie konnte dieser Rucksack bloß so schwer sein? Er zerrte an meinen Schultern, und ich merkte, dass ich meinen Hals vorstreckte wie eine Schildkröte. Die Wanderstöcke hielt ich in der Hand; zu bescheuert kam es mir vor, mit Wanderstöcken diesen Stadtpark zu durchqueren, während die Bewohner hier joggen gingen und ihre Hunde spazieren führten. Ich war doch nicht beim Biathlon! Ekat hatte mir die Stöcke aufgedrängt und versichert, dass ich sie würde brauchen können, gerade, wenn ich lange Auf- und Abstiege zu bewältigen hätte.
War dieser Hügel hier schon ein Anstieg? Ich probierte das mal aus mit den Stöcken. Immer ein Fuß vor den anderen, und jeweils den gegenüberliegenden Stock auf den Boden setzen. Kam es mir nur so vor, oder ging es tatsächlich ein wenig leichter?
Dann verfing ich mich mit einem Schuh im Stock, stolperte, das Gewicht des Rucksacks rutsche über meinen Rücken nach vorne und ich landete mit den Knien im Dreck. Fluchend rappelte ich mich wieder auf. War ich gerade tatsächlich beim Gehen hingefallen? So wie Lilly, als sie laufen gelernt hatte?
Irgendwie erreichte ich die Hügelkuppe, schweißgebadet und außer Atem. Wütend schmiss ich den Rucksack zu Boden und zerrte mir die Jacke vom Leib. Der Regen war mir egal. Dann suchte ich den Müsliriegel raus, stopfte ihn mir in zwei großen Bissen in den Mund, und kaute verbissen.
Jemand kam den Hügel hinauf. Offenbar auch ein West Highland Way Wanderer, jedenfalls trug er einen Rucksack. Beziehungsweise sie, denn es war eine Frau, die sich mit gleichmäßigen Schritten näherte. Sie trug eine abgenutzte gelbe Regenjacke an, und an ihrem altmodischen Rucksack baumelte eine Kaffeetasse, die bei jedem Schritt leise klirrte. Die Frau schaute weder nach links noch nach rechts, und als sie auf meiner Höhe ankam, machte sie keine Anstalten, anzuhalten.
„Hallo!“, sagte ich lauter als nötig, und fügte dann auf Englisch hinzu: „Ich bin ja so glücklich, Sie zu sehen. Angeblich wandern diesen Weg ja 50.000 Menschen im Jahr, aber Sie sind die erste, die ich hier treffe.“
Offenbar widerwillig unterbrach die Frau ihren Trott. Unter ihrer Kapuze lugte weißes struppiges Haar hervor. Ich erkannte sie als diejenige, die vorhin im Pub ihre Stiefel geputzt hatte. Sie hatte einen Leberfleck über der Oberlippe wie Cindy Crawford, und herabhängende fleischige Wangen. Auf ihrer randlosen Brille setzten sich kleine Regen Tröpfchen ab. Ich schätzte sie auf Anfang sechzig.
„Du bist ja auch erst eine Meile gelaufen“, sagte sie, in britischem Englisch und ohne das rollende „R“ der Schotten. Es klang noch irgendein Akzent durch, den ich nicht ganz zuordnen konnte. Als wäre Englisch nicht ihre Muttersprache.
„Eine Meile? Mir kam es vor, als wären das schon mindestens zehn gewesen!“
Menschen, die keine Miene verziehen, versuche ich geradezu zwanghaft zum lächeln, oder zumindest zu irgendeiner Reaktion zu verleiten.
„Nicht mal annähernd.“
Die Frau war anscheinend ein harter Brocken.
Es enstand eine Pause.
„Wann ist denn bloß endlich diese Stadt zu Ende?“, fragte ich, und hörte selber, wie weinerlich ich klang.
„Du suchst wohl nen Schlafplatz für heute Nacht?“, tat sie mir den Gefallen. „Noch den Hügel hier runter, dann geht der Wald los. Da findest du was.“
„Du scheinst dich ja gut auszukennen. Sag bloß du machst das öfter?“
„Den West Highland Way gehen? Oh ja, schon viele Male. Ich kenne hier jeden Baum und jeden Strauch.“
„Klar. Jeden Baum und jeden Strauch. Kann ich voll nachvollziehen. Das macht so einen Spaß, ich würde das am liebsten auch ständig machen. Wahrscheinlich werde ich gleich, wenn ich in Fort William ankomme, umdrehen, und den ganzen Weg bis Glasgow wieder zurücklaufen. Dann spar ich mir das Busticket.“
Sie musterte mich.
„So wie du aussiehst, wirst du es nicht mal bis zum Loch Lomond schaffen. Oder vielleicht so grade bis dorthin. Die meisten geben dort auf.“
Jetzt wurde ich aber doch ärgerlich.
„Ich habe mich gut vorbereitet, ich werde ganz bestimmt nicht aufgeben!“
„Du bist ja kaum diesen Hügel hochgekommen“, stellte sie nüchtern fest.
Ich stand mit dieser besserwisserischen Alten im Nieselregen auf der Hügelkuppe, und war tatsächlich froh über ihre Gesellschaft.
„Ok, ich gebe zu, mit diesen Wanderstöcken komm ich nicht klar“, lenkte ich daher ein. „Kannst du mir zeigen, wie das richtig geht?“
Mit einer ruckartigen Bewegung nahm sie meine Stöcke und drückte mir ihre in die Hand. Dann hielt sie mir meinen einen Stock an die Hüfte, verstellte an den Schnellspannern die Höhe und gab ihn mir wieder.
„Die waren viel zu hoch. Stell so auch den anderen ein“, befahl sie.
Ich fummelte an den Schrauben herum. Sie sah mir zu und sagte halblaut:
„Denkt, sie kann 96 Meilen durch die Berge laufen. Setzt sich einen viel zu schweren Rucksack auf, und kann noch nicht mal ihre Stöcke einstellen. Und dann diese Schuhe!“
„Ich kann dich hören!“, bemerkte ich. „Und im Übrigen hab ich sie eingelaufen, die Schuhe.“
„Hast du sie auch mit Rucksack auf dem Rücken eingelaufen? Ich glaube nicht, so wie du läufst. Zeig mal her das Teil.“
Ohne mein Einverständnis abzuwarten öffnete sie meinen Rucksack, und begann, Klamotten raus zu zerren.
„Brauchst du nicht. Brauchst du nicht. Brauchst du nicht.“.
Meine Jeans, zwei Tops und die Turnschuhe landeten auf einem Haufen auf dem Boden. Die Sternchenbluse hielt sie mit einem Gesichtsausdruck von sich weg, als würde davon ein sehr schlechter Geruch ausgehen. Dann sah sie mich mit hochgezogenen Augenbrauen an, bevor die Bluse ebenfalls auf den Haufen flog. Ihr folgten die grüne Bluse, die Strickjacke, die Campingdecke und das Plastikgeschirr. Kurzzeitig überlegte ich, mein Pfefferspray einzusetzen, während die Frau gerade meinen Waschbeutel durchwühlte.
„Kondome, und dazu noch die Pile?“, bemerkte sie. “Du sorgst vor, was?“
Sie ließ beides im Beutel, nicht aber das Deospray und das Fläschchen mit Haarshampoo.
Als sie fertig war betrachteten wir gemeinsam den Kleiderhaufen. Es sah aus wie bei mir zu Hause, morgens vor dem Kleiderschrank.
„Wenn du das alles hier lässt“, sagte sie, „wirst du es vielleicht schaffen.“
„Aber ich kann das doch nicht hier liegen lassen.“
„Doch,