Heilig, im Sinne von heiligsprechen. Nein.
Heilig, im Sinne von religiöser Verehrung. Heiliger Gral, heilige Gegenstände … Nein.
So komme ich nicht weiter.
Anderer Ansatz:
Was bedeutet ihm das Wort heilig. Wofür würde er es benutzen?
Keine Ahnung, er hat es nie benutzt. Soweit ich weiß, ist er auch nicht religiös.
Verflixt!
Ich bin zu müde. Es fällt mir immer schwerer, klar und logisch, zu denken. Also schleppe ich mich ins Bett. Was ist ihm heilig, ist die letzte Frage, die ich vor dem Wegdämmern immer wieder stelle und um Antwort bitte.
Kapitel 17
Yan weckt mich. Ich hebe ihn aus dem Bettchen, damit Uta noch ein wenig Schlaf bekommt. Meine Küsse und leisen Worte beruhigen ihn.
»Fein geschlafen mein Schatz? Mama macht Essen. Hast du deine Hose voll?«
Ich wechsele ihm seine Windel und er sieht schon zufriedener aus. Jetzt bekommt er sein Frühstück und dann kann er spielen. Wir gehen wir in die Küche.
Gestern habe ich Brei vorbereitet, den ich nun in die Mikrowelle stelle. Das Geräusch kennt Yan und beginnt zu jammern. Um ihn abzulenken, küsse ich seine Wange und gehe ihn sacht wiegend in der Küche umhertragen. Ich murmele leise, dass das Essen gleich fertig ist.
Als wir vor dem Kühlschrank stehen, erkläre ich ihm die Fotos, die dort hängen. Er schaut interessiert zu meinem Finger, der abwechselnd auf die bunten Bilder zeigt. Durch die Farben aufmerksam geworden, wird er still. Ich sehe, dass sich seine Augen nicht bewegen. Er starrt etwas an. Mich interessiert, was es ist, damit ich es ihm erklären kann. Also folge ich seinen Augen. Ich erblicke das gefaltete Bild von Joris und ich trete dichter.
»Das hat uns Joris gemalt. Du warst noch nicht auf der Welt oder in meinem Bauch. Aber er hat dich gemalt. Kleiner, schlauer Junge Joris …« Ich beende den Satz nicht.
Die Mikrowelle piepst, aber ich kann meinen Blick nicht von dem Bild abwenden. Nicht einmal Uta nehme ich wahr, die in die Küche tritt und mir Yan abnimmt. Nach dem zweiten Piepsen wurde er immer unruhiger. Als ich mich wieder gefangen habe, sehe ich beide am Tisch sitzen, wo Uta ihn füttert und zu mir sieht.
»Was ist?«, fragt sie mich von Sorge erfüllt.
»Hast du ihm von Yan erzählt?«
Erstaunt über meine Frage, hebt Uta ihre Augenbrauen. »Nein. Ich habe ihn seit der Übergabe am Bahnhof nicht mehr gesehen oder gesprochen. Aber du weißt, ich hätte ihm liebend gern von Yan erzählt.«
Ich nicke. Der Streit. Ich glaube ihr.
»Warum fragst du?«, will Uta wissen.
»Woher weiß er von Yan?«, überlege ich laut.
»Von mir nicht. Aber er erwähnte ihn doch in seinem Brief«, entgegnet Uta und unterbricht meine Überlegungen. Unbewusst hat sie meine Gedanken in eine neue Richtung gelenkt.
»Oh, mein Gott!«, entfährt es mir und ich öffne sperrangelweit den Mund. »Nein. Nein! Uta, er hat den Brief doch in Warnemünde geschrieben.«
Ich raufe mir verzweifelt meine Haare und sehe zu Uta. Sie weitet nach kurzem Überdenken ebenfalls ihre Augen. Entsetzt sehen wir uns an, denn wir wissen, was es bedeutet. Ich springe auf und laufe auf und ab.
»Das heißt, er wusste es bereits, als er dir den Brief in Warnemünde schrieb. Einen Tag vor seiner Abreise? Yanick weiß seit über einem Jahr, dass er Vater wird? Beziehungsweise ist?«
Ich nicke fassungslos, setze mich hin und falte die Hände auf dem Tisch. In Gedanken gehe ich alle Möglichkeiten durch, wie er in Warnemünde davon erfahren haben könnte.
Dann erinnere ich mich und sehe Uta an: »Er weiß es. Er erwähnte in der S-Bahn, dass Kai ihm das, was er mir bei dem Channeling sagte, auch erzählt hatte. Ein Junge. Dann. Später ein Mädchen. Ich habe das immer als Schwachsinn abgetan, weil ich ja dachte, dass Kai und Lisa gezielt gegen Ninette arbeiteten.«
Ich stehe auf und nehme das Bild von Joris vom Kühlschrank ab und setze mich wieder. »Das hat mir ein kleiner Junge im Zug nach Warnemünde gemalt.«
Ich falte das Bild auseinander und drehe es zu Uta, die es jetzt das erste Mal als Ganzes betrachtet. Ihre Augen ruhen auf mir und suchen in meinem Gesicht eine Erklärung.
»Kais Prophezeiung!«, stammelt sie.
»Joris hieß er und er sagte, er habe uns gemalt. Yanick und mich. Ich habe das Bild am ersten Morgen in der Pension gefaltet und mich entschieden, schwanger zu werden. Ich wollte etwas von Yanick haben. Eben habe ich mich an was erinnert. Ich habe das schon fast vergessen. Ich kam gerade aus der Dusche und im Vorbeigehen habe ich Yanick gesehen. Er hielt die Zeichnung in der Hand. Er faltete es auf, dann wieder zu. Ganz sicher versuchte er zu verstehen, warum ich es gefaltet habe.« Wie Yanick klappe ich das Bild ebenfalls auf und zu. »Er betrachtete sich die Seite, die ich für mich gefaltet hatte, als ich mich entschloss …«
Eine Träne rollt auf das Bild hinab und Uta folgt betreten mit ihren Augen. Auf der Zeichnung sind Yan und ich zu sehen. Nur wir, ohne Yanick.
»Aber was mir eben an dieser Erinnerung fast den Atem verschlug, waren seine Augen, als er zu mir sah. Sein rechter Mundwinkel war ein ganz klein wenig angezogen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Er sah so aus, wie glückliche Väter aussehen, die eben gerade erfahren haben, dass sie Väter werden. Und das, obwohl ich ihn weggefaltet hatte, ihn ausgeschlossen habe. Genauso wie ich ihn aus meinem Herzen ausgeschlossen habe. Als wir am letzten Tag essen waren, hatte er absichtlich nur Wein bestellt, um mich zu testen. Ich habe keinen Wein getrunken, denn ich habe mir Wasser bestellt. Er hat mich gefragt, ob ich ihm etwas zu sagen hätte … und ich habe … geschwiegen.«
Uta greift meine Hand und drückt sie ganz sanft. Sie wartet, bis ich wieder zu Atem gekommen bin, ohne mich mit Fragen zu bedrängen.
»Ich konnte es nicht, obwohl er mir sicher alles Schlechte verziehen hätte. Später im Bad stand er hinter mir und hatte seine Hände auf meinem Bauch gelegt. Wie Kai im Video erinnerst du dich? Als Yanick und ich so standen, ging mir durch den Kopf, was für ein liebevoller Vater er wäre. Im Spiegelbild sahen wir so schön aus. Er hat plötzlich zu mir aufgesehen. Ich konnte meine Gedanken nicht verstecken. Aber ich konnte ihn auch nicht bitten zu bleiben. Er zog mich in die Küche, um mir auf drastische Weise begreiflich zu machen, wie ich mich verhielt. Frau von und zu Arschloch. Aber die, die er abgöttisch liebt.« Mein Körper krampft sich bei den Gedanken an die leidvollen Gefühle, die ihn geplagt haben mussten. Ich wische mir die Nase mit meinem Handrücken sauber. Uta eilt wieder los, um mir ein Taschentuch zu holen.
»Aber, begriffen habe ich erst am nächsten Tag auf dem Bahnsteig. Diese Leere, dieses Gefühl, nur halb zu sein. Unvollkommen ohne ihn. Verdammt in der Hölle.«
Uta zieht mich an sich. Ich weine die restlichen Tränen, in meiner selbst gewählten Hölle, die nicht in der Lage sind, das Feuer darin zu löschen.
Yan brabbelt munter auf Utas Arm und ich sehe zu ihm auf.
»Ich bin sicher, dass es noch nicht zu spät ist. Denk an den Brief. Er sagt doch, dass er dich und klein Yanick noch will«, tröstet mich Uta mit traurigen Augen.
»Klein Yanick«, flüstere ich. »Da stand doch etwas im Brief drin.«
Ich hole ich eilig den Brief und lese die Stelle über Yan. »Da! Und bring unseren Sohn mit! Oder wie du ihn immer nennst: Klein Yanick. «
Ich lese noch einmal den gesamten Absatz: » Ich bitte dich nun Ella! Wenn dir ein ganz Kleines bisschen unserer Liebe heilig ist … Ein ganz kleines Fünkchen nur … Dann genügt es aus, um zu mir zu kommen. Und bring unseren Sohn mit! Oder wie du ihn immer nennst: Klein Yanick. Teile bitte endlich dein Leben mit mir … «
Ich